: Gemeißelte Dramatik
■ Alsfelder Vokalensemble Bremen sang im Bremer Dom Mendelssohns „Paulus“
Felix Mendelssohn Bartholdys 1836-1838 entstandener „Paulus“ zählte neben den Oratorien Haydns und Händels zu den meist aufgeführten Werken des neunzehnten Jahrhunderts. Dass das Werk heute relativ selten zu hören ist, die „unbeschreibliche Wirkung und Begeisterung“, von der der Uraufführungsbericht erzählt, heute nur sehr bedingt zustande kommt, hat mehrere Gründe. Zum einen verlangt die Wiedergabe einen riesig besetzten Chor – bei der Uraufführung 1836 wirkten 356 SängerInnen mit – zum anderen stellt sich die unleugbare ästhetische Problematik des Werkes heute deutlicher als damals, als solcherart retrospektives Kompositionsverfahren eines der Ausdrucksmittel der Romantik war.
Nach der denkwürdigen Wiederentdeckung der Bach'schen Matthäus-Passion 1829 durch den jungen Felix Mendelssohn Bartholdy glaubte der, in diesem Werk die Grundlage gefunden zu haben für seine ethisch begründete Kunstauffassung und seinen Willen zur christlichen Bekehrung. Dass er aber mit dem Griff nach den Bachschen Passionsformen nicht nur seinen jüdisch-christlichen Konflikt – der Jude Felix wurde im Alter von sieben Jahren getauft – gelöst, sondern möglicherweise nur verdrängt hat, zeigt sich an einigen Punkten des Werkes. Die Bekehrung des Saulus zum Paulus nach dem in der Apostelgeschichte erzählten berühmten Ereignis in Damaskus findet weder textlich noch musikalisch eine psychologische Ausarbeitung, sondern wird einfach nicht-prozessual als Tatsache hingestellt.
Die jetzige Aufführung im Bremer Dom mit dem Alsfelder Vokal-ensemble, das neuerdings „Bremen“ an seinen Namen hängt, weil es seinen Sitz in die Hansestadt verlegt hat, führte Wolfgang Helbich mit stets vorwärtsgehendem Schwung und einer überzeugenden Einfühlung in die wechselnden Atmosphären des Werkes. Natürlich waren es nicht 356 SängerInnen, aber die homogene Klangkraft der Alsfelder ließ den Wunsch danach auch gar nicht aufkommen.
Helbich erarbeitete eine durch und durch kammermusikalische Auffassung, aus der er Dramatik an den richtigen Stellen herausmeißelte (die regelrecht schlagenden „Steiniget“-Chöre). Ein geringfügiger Spannungsverlust am Ende des ersten Teiles geht auch ein wenig zu Lasten Mendelssohns, es gibt doch beträchtlich Larmoyanz in dem Stück. Und die Schönheit seiner Melodiebildung grenzt manchmal an Kitsch, an schönen Kitsch. Die Kammer-Sinfonie Bremen machte ihre Sache gut, besonders die Bläser verdienen, hervorgehoben zu werden.
Mit zwei SängerInnen des Bremer Theaters haben wir zwei hervorragende OratoriensängerInnen in Bremen: die Sopranistin Iris Kupke legte in ihren großen Erzählpart viel emotionale Kraft und Armin Kolarczyck als Paulus überzeugte durch einen flexiblen Reichtum an Nuancen zwischen Lyrik (seiner Dankes-Arie) und Dramatik (die Rache-Arie). Auch der Tenor Bernhard Gärtner konnte sich auf schönstes Bel Canto-Singen stützen und die Altistin Waltraut Hoffmann-Mucher auf eine glasklare Diktion. Stehende Ovationen im gut besuchten Dom.
Ute Schalz-Laurenze
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen