piwik no script img

intershopWLADIMR KAMINER über rätselhaftes Radio

Auf der kurzen Welle

Von den Rundfunkempfängern, die in Geschäften heutzutage angeboten werden, hat kaum noch einer den Kurzwellenbereich. Das ist auch verständlich, denn wer braucht so etwas noch? Dort hört man nur das Rauschen des Weltalls und irgendeine Voice of Irland auf Chinesisch, dazu noch verzerrt und völlig unverständlich. Nur die Außerirdischen und ich hören gerne die Nachrichten im Kurzwellenbereich.

Die Außerirdischen, wenn es sie überhaupt gibt, müssen die kurze Welle mögen, weil sie am weitesten ausgestrahlt wird. Auf diese Weise können sie unser Treiben auf der Erde unauffällig verfolgen. Ich erbte die Gewohnheit, kurzen Wellen zu lauschen, von meinem Vater.

Damals in der Sowjetunion waren die ausländischen Radiosender wie BBC oder Voice of Amerika die einzigen Informationsquellen, denen man glauben mochte. Sie brachten ihre Nachrichten immer nach Mitternacht und jeden Tag auf einer anderen Frequenz, wurden aber trotzdem ständig von den sowjetischen Radioabwehrdiensten gejagt und mit speziellen Schallgeräten gedämpft. Doch die ersten 10 Minuten schafften sie fast immer.

Mein Vater, der gemäß seiner eigenen Tagesordnung schon um acht ins Bett ging, stellte seinen Wecker auf Mitternacht. Wenn es klingelte, stand er auf und schaltete die „Heimat“ an – ein alter Plattenspieler, der auch gleichzeitig ein Rundfunkempfänger war und fast so groß wie ich damals.

Ich lag auf dem Klappbett im Nebenzimmer und konnte durch die dünne Pappwand die Geräusche des Weltalls mithören. Mein Vater drehte das Rad auf der Skala hin und her – bis irgendwann eine ungewöhnlich ernste Stimme aus dem Lautsprecher kam: „Achtung! Achtung! Sie hören The Voice of America, die offizielle Meinung der Regierung der Vereinigten Staaten.“

Mein Vater drückte sein Ohr an den Lautsprecher und lauschte den Nachrichten aus der freien Welt. Nach ungefähr zehn Minuten war der Spaß zu Ende. Der Sender wurde gefunden und eliminiert – für meinen Vater war nur noch das entsetzliche Geheul des Störsenders zu hören.

Er schaltete die Kiste aus, ging zurück ins Bett und träumte schlecht. Dafür konnte er aber am nächsten Tag in seinem Betrieb in der Rauchpause auf der Toilette flott mitreden, er wusste nämlich, was in der Welt wirklich los war.

Zwanzig Jahre später übernahm ich den Staffelstab von meinem Vater: Nun sitze ich nachts in der Küche an einem viel kleinerem Gerät namens Yachtboy 217 – der ultimative Weltempfänger der Firma Grundig. Meine Kinder sind längst im Bett, meine Frau sitzt neben mir mit einem Kriminalroman in der Hand, und ich lausche den Nachrichten aus der fernen Welt.

Die offizielle Meinung der amerikanischen Regierung interessiert mich nicht so sehr wie früher, sie ist auch langweiliger geworden, seitdem es die Sowjetunion nicht mehr gibt. Ich höre gerne die Deutsche Welle aus Köln in russischer Sprache.

Die Nachrichten werden dort so oft von einer in die andere Sprache übersetzt, bis sie ihren ursprünglichen Sinn verlieren und zu einem regelrechten Rätsel werden. Dann versuchen wir in der Familie diese Rätsel zu knacken.

Wenn man dem Sender Glauben schenken darf, dann ist unsere Welt nicht mehr zu retten. Neulich zum Beispiel behauptete die Deutsche Welle aus Köln in ihrem aktuellen Nachrichtenprogramm: Eine Gruppe von blinden Menschen hätte ein Schiff im Indischen Ozean in ihre Gewalt gebracht. Die Blinden hatten sich als ganz normale Passagiere auf dem Schiff einquartiert, dann aber plötzlich den Kapitän und die Matrosen als Geisel genommen. Noch hätten sie jedoch keine Forderungen gestellt, die Lage sei kompliziert, erzählte der Nachrichtensprecher der Deutschen Welle. Mir standen die Haare zu Berge. Die armen Menschen! Wenn sie wirklich ganz blind waren, würde ihr Schiff nie ein Ufer erreichen.

Aber irgendwie ist das doch absoluter Schwachsinn, meinte meine Frau. Wozu sollen denn Blinde überhaupt ein Schiff besetzen? Und noch dazu im Indischen Ozean! Ich überlegte kurz und knackte das Rätsel. Die Nachricht wurde falsch ins Russisch übersetzt. Ursprünglich hieß es bestimmt: Blinde Passagiere haben ein Schiff in ihrer Gewalt – und der Praktikant der Deutschen Welle, der für die Übersetzung zuständig war, kannte diesen Begriff nicht: Er dachte bestimmt, die Passagiere waren wirklich blind! So muss es gewesen sein. Müde, aber zufrieden gingen meine Frau und ich ins Bett.

Nirgendwo im Radio gibt es solch spannende Nachrichten wie auf der kurzen Welle aus Köln.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen