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Die allwissende Artistenfamilie

Weiterleben! Nachdenken! Bewegung! Das internationale Tanzfest „Tanz im August“ in Berlin war spannend, intelligent und politisch wie lange nicht mehr. Am Ende brillierten die Rosas aus Brüssel mit ihren Geschichtsbildern aus Körpern und Aktionen

von KATRIN BETTINA MÜLLER

„Und ich, was kann ich?“, fragt Frank Vercruyssen, Schauspieler, die Tänzer der Rosas. „What can we do together? What can we add to the presence?“ Sie sitzen am Tisch und zählen die Kriege der Gegenwart auf, das Scheitern des Sozialismus, die Pervertierung der Natur: großes Palaver zwischen 13 Tänzern und den vier Schauspielern der Gruppe Stan. Was kann Kunst schon noch ausrichten in dieser verzweifelten Situation?

Antworten gibt es nicht, wohl aber Verführungen, Liebesgeschichten zwischen Tänzern und Schauspielern, ornamentale Verschmelzung von Erzählung und Bewegung. In Dialogen und Duetten suchen sie nach einer gemeinsamen Geschichte, treiben auseinander, rechnen miteinander ab. Taka Shamoto und Frank Vercruyssen umkreisen sich wie zwei Planeten und verpassen sich ständig. Sara de Roo verfolgt die Tänzer eifersüchtig auf jede Bewegung, jede Regung, die nicht ihr gilt. Der traurige Damian de Schrijver zieht die Tänzerinnen wie ein Magnetberg an und ist doch so sehr mit der Personifizierung des Unglücks und der Einsamkeit beschäftigt, dass sie wie Federbälle von ihm abprallen. Gründe, sich umzubringen, fallen Jolente de Keersmaeker unentwegt ein; Gründe, zu tanzen, überhaupt nicht. Sie ist nicht nur die Schwester der Rosa-Chefin und Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker, sondern auch ihr intellektueller Widerpart im gemeinsamen Stück „In Real Team“. Keine andere führt Tanz so spitz als Zumutung vor.

Das Leben ist zu kurz für Aporien. Immer wenn Monologe und Dialoge auf einen Punkt der unlösbaren Widersprüche hingetrieben sind, lärmen die vier Musiker der Jazzrockband Aka Moon los. Eigentlich ist ihre Musik untanzbar, in ständiger Spannung zwischen Chaos und Ordnung. Deren Zusammenprall zu organisieren aber ist die große Kunst von de Keersmaeker. Ihre Tänzer toben, brechen aus, beobachten sich, reagieren aufeinander, greifen ein. Sie stoßen sich an wie Billardkugeln, fliegen mit divergierender Energie auseinander und finden sich doch im entscheidenden Moment wieder.

Die belgische Produktion „In Real Time“ gehörte zu den Höhepunkten des diesjährigen Festivals „Tanz im August“ in Berlin, das mit intelligenten und aufregenden Stücken glänzte. Es wurde viel erzählt und laut gedacht in den Stücken aus Frankreich (von Philippe Decouflé und Maguy Marin), Kanada (Lynda Gaudreau), Japan (Un Yamada) und Belgien. Übersetzungshilfen für Japanisch, Flämisch, Englisch und Französisch hatten alle Hände voll zu tun. Dennoch waren die Produktionen nicht kopflastig. Denn die Antworten auf die allgemeinen Fragen nach dem Sinn der Kunst lagen meist in ganz konkreten Geschichten und Erinnerungen. Maguy Marin nutzte in „Quoi qu’il en soit“ die unterschiedliche Herkunft ihrer Tänzer aus Spanien, Chile, Italien und Frankreich als Potenzial. Tänzer sind oft Ausländer und sozial kaum sicherer gestellt als Zirkusartisten. Dass sie aus dieser Positionierung heraus aber eine eigene Wahrnehmung der Gesellschaft und ihrer Reaktion auf kulturelle Verschiedenheiten zum Thema nehmen, ist neu: In Frankreich hat der fremdenfeindliche Ruck Arbeiten herausgefordert wie Marins Stück über Emigration. Auch die Compagnie von Decouflés hatte sich vom Zirkus das Bild der Artistenfamilie geliehen, die zusammen die Krise der Kunst übersteht.

Zugleich wurde so viel getanzt wie schon lange nicht mehr, und die Zeiten, da ein kritischer Anspruch im Tanz nicht ohne Verweigerung der Spielregeln auskam, verblassen allmählich. Anders als das Theater, das nach der gründlichen Dekonstruktion des Subjekts nicht so recht weiterweiß, fällt dem Tanz das Spiel leicht, jedes Sein und jede Gegenwart als Ergebnis von Relationen, Reaktionen, Vorausgegangenem und Projektionen zu beschreiben. In der Öffnung der Form und der Demokratisierung der Strukturen zieht der Tanz dem Theater davon.

Doch mit dem Ende des Festivals, das 16 Produktionen in zweieinhalb Wochen zeigte, brechen auch in Berlin wieder trockenere Zeiten an. Die freie Szene ist, das zeigen viele Ansätze, thematisch auf der Höhe der Zeit, aber durch die Produktionsbedingungen fast nie in der Lage, mit einem großen Potenzial an Künstlern und über genügend lange Zeit zu arbeiten. Von den drei Ballettbühnen, die vier- bis fünfmal so viel Mittel erhalten, sind innovative Impulse, die über das Ballett hinausreichen, schon lange nicht mehr zu erwarten. Nur die Compagnie von Sasha Waltz an der Schaubühne zeigt sich ähnlich wach.

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