Der Geschmack des Verfalls

Als Programmmacher des 3. BerlinBeta-Filmfestivals interessieren sich Andreas Döhler und Anatol Weber für Autorenkino mit Stil, Splatter und kunstvoll-kalten Trash. Dieses Jahr haben sie Korea als Filmland entdeckt – und Zombie-Rock-’n’-Roll-Movies

von ANDREAS BUSCHE

Die einen haben die meisten Weltpremieren, die anderen die meisten Weltstars, die dritten das beste Wetter. Das sind mittlerweile ernsthafte Bewertungskriterien, an denen sich nationale und internationale Filmfestivals messen lassen müssen. Der wachsende Konkurrenzdruck hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass sich die Festivals heute der Macht der Filmindustrie hilflos ausgeliefert sehen; sie wurden nach und nach zu nützlichen Marketingplattformen degradiert, die für einen „Namen“ alles tun würden.

Solche Sorgen plagen Andreas Döhler, den Leiter des BerlinBeta-Filmfestivals, bisher noch nicht. Sein Star in diesem Jahr heißt Tilda Swinton, die am 3. September die italienische Produktion „The Protagonists“ dem Berliner Publikum vorstellen wird. Kein Name, mit dem man im nationalen Festival-Circuit Boden gut macht. Döhler sieht das allerdings ganz gelassen. Er will sich auch im dritten Jahr des Festivals nicht unter Premierenzwang setzen lassen. Das alles seien doch nur Eitelkeiten – letztlich zähle nur, was auf der Leinwand zu sehen ist.

Neil La Butes „Your Friends and Neighbors“ ist dafür ein gutes Beispiel. Der Film ist zwar bereits zwei Jahre alt, hat aber beste Chancen, in diesem Jahr in der Sektion „Independent Images“ einen Preis zu gewinnen. La Bute, der im Frühjahr in Cannes für seinen neuen Film „Nurse Betty“ ausgezeichnet wurde, ist ein Meister der Selbstzerfleischung. Seine Versuchsanordnung besteht aus drei Paaren, die ihre Beziehungen zu psychischen Schlachtfeldern ausweiten. Mit bösartigem Zynismus seziert er die Neurosen seiner Protagonisten (u. a. Ben Stiller, Catherine Keener, Nastassja Kinski) wie in einer Gruppentherapie, die nur auf Zerstörung angelegt ist, und outet seine Männer letztlich als jämmerliche Waschlappen, deren Frauen lieber lesbisch werden, als sich ihr sinnloses Gequatsche während des Analverkehrs anhören zu müssen.

Man merkt BerlinBeta den Spaß seiner Macher am Programmieren eines eigenen Festivals an. Eine geschmackliche Linie ist nicht auszumachen und auch nicht erwünscht: Vom ruhigen, stilisierten Autorenkino aus Japan („Moonlight Whispers“) über Serial-Killer-Hardcore aus Südkorea („Tell me something“) bis zur engagierten Rassismus-Dokumentation „The Protagonists“ ist der Bogen weit gespannt. Die Entscheidung, sich nicht mit dem Premierenwahn der Großveranstaltungen messen zu müssen, hat Döhler und seinem Partner Anatol Weber die Möglichkeit eröffnet, ihre ganz persönlichen Highlights anderer Festivals für das Berliner Publikum nachzuspielen. Diese Unabhängigkeit von Verleihern erhöht die Qualität merklich – die Filme von BerlinBeta klingen nicht nur in den Inhaltsangaben gut, sie sind es in den allermeisten Fällen auch. Über allem steht in diesem Jahr natürlich Harmony Korines zweiter Film „Julien Donkey-Boy“. Nachdem „Gummo“ bereits 1998 zum Festival-liebling avancierte, war „Julien Donkey-Boy“ für Döhler so etwas wie ein Prestigeobjekt.

Als leichte Kost kann man den Film allerdings nicht bezeichnen: Das Porträt einer White-Trash-Familie ist in schmerzhaft-groben Schwarzweißbildern gehalten, deren Montage an das Gezappe einer Überwachungskamera erinnert. Korine erzählt seine Geschichte mit dem Impetus eines Autisten: Bizarre Kommunikationsstörungen am Esstisch klaffen wie unverheilbare Wunden in der verschütteten Familiengeschichte. Werner Herzog spielt sich in die Rolle des tyrannischen Vaters wie eine Inkarnation seines Möchtegern-Alter-Egos Kinski, und von ebensolchen Wechseln zwischen cholerischen Aggressionsausbrüchen und zärtlichen Annäherungen wird auch „Julien Donkey-Boy“ getragen.

Das Thema „Verfall“ ist immer noch ein zentrales Interesse von Andreas Döhler. Leiden und Selbstvergessenheit, mitunter auch die krankhafte Suche nach Halt und Erlösung stehen im Mittelpunkt vieler Filme. Zum Beispiel in „What becomes of the Broken Hearted“, dem furiosen Sequel zu Lee Tamahoris „Die letzte Kriegerin“. Die Aussichtslosigkeit auf Überleben im Gangland wird mit schonungsloser Härte vorgeführt, allein die Familie, im ersten Teil noch Hort der Gewalt, bietet Rückzugsmöglichkeiten. Todd Verows „Once & Future Queen“ steht dagegen ganz in der Tradition des „Cinema of Transgression“. Sein New York ist eine Leprakolonie, durch die sich das menschliche Wrack „Anti-Matter“ mit einem unbezwingbaren Überlebenswillen schlägt. Sie sucht Liebe, aber ein kurzer Fick tut’s vorerst auch. Dass sie dabei ihre Würde behält, ist Verows großer Verdienst.

Die Konzentration auf Themenblöcke ist ein wesentliches Merkmal, mit dem Döhler und Weber dem Festival auch in den folgenden Jahren ein eigenständiges Profil verleihen wollen. Besonders das „Musik Department“ soll sich in Zukunft als feste Institution etablieren. Da sich weder die Popkomm. noch die Musikvideo-Sektion in Oberhausen bisher um hochwertige Musikdokumentationen bemüht haben, sieht Döhler eine sehr interessante Nische bislang unbesetzt. Zu den Höhepunkten des Musikfilm-Programms gehören u. a. Heike Blümners „Hip Hop Queens“, die Oskar-Sala-Doku „Die vergangene Zukunft des Klangs“ und das durchgeknallte Zombie-Rock-’n’-Roll-Movie „Wild Zero“ mit den japanischen Garage-Punks Guitar Wolf.

Pionierarbeit leistet BerlinBeta dieses Jahr mit der Entdeckung des prosperierenden Filmmarktes in Südkorea. Orientiert an reinen Genreformaten, westlicher Prägung ist dort ein Publikumskino entstanden, das durchaus das Potenzial besitzt, eine ausgeprägte Formensprache wie im Hongkong-Kino der 90er zu entwickeln. „Attack the Gas Station“, eine schrille Satire auf Zivilcourage innerhalb eines totalitären Systems, und „Yellow Hair“, die nihilistische, mit explizitem Sex aufgeladene Schilderung der moralischen Degeneration in Korea, sind die herausragendsten Exponenten einer neuen Generation von jungen, koreanischen Filmemachern.

Filmfest BerlinBeta: Vom 30. 8 – 6. 9. in den Kinos Hackesche Höfe, Filmtheater am Friedrichshain, Central und Eiszeit