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MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON VOLKER WEIDERMANNAlligators Sohn

William Faulkner: „Mississippi“. Übersetzt und herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle. Stroemfeld Verlag 2000, 128 Seiten, 98 Mark

Nichts sollte man über sein Leben erfahren. Gar nichts. Vielleicht, weil gar nichts zu erfahren war. Der Literaturwissenschaftler Frederick Karl meinte, Faulkner habe überhaupt nur an drei Dingen Interesse gehabt: Schreiben, Schweigen und Trinken.

Da ist eine Lebensgeschichte natürlich schnell erzählt. Vielleicht war aber auch dieses Faulkner-Bild nur eine der Dichterleben-Schablonen, die der Autor von sich selbst erstellte, um Biografienschnüffler abzuwimmeln: „Was das Biografische angeht: Sag den Lumpen gar nichts . . . Sag ihnen, ich sei vor zwei Jahren auf der Genfer Friedenskonferenz zur Welt gekommen, Vater ein Alligator, Mutter eine Negersklavin. Oder was du ihnen sonst erzählen möchtest.“

Doch dann, an einem 20. August, vermutlich des Jahres 1951, schrieb er an Robert K. Haas, er trage sich mit dem Gedanken, seine Memoiren zu schreiben. Allzu ernst sollte man das nicht nehmen, denn er schränkte gleich darauf ein, na ja, es solle so die Erscheinungsform einer Biografie haben, aber doch eher halbfiktional sein. Das heißt, mit Berichten, die auf realen Begebenheiten fußen, aber durch Dichtung „verbessert“ würden. Es sollte um Wahrheit gehen, nicht um Lebensfakten („I believe that ‚fact‘ has almost no connection with ‚truth‘ “).

Damals begann Faulkner an „Mississippi“ zu schreiben. Wie er das mit der Wahrheit und der Dichtung gemeint hatte, kann man schon im ersten Satz lesen: „Mississippi beginnt in der Lobby eines Hotels in Memphis, Tennessee, und erstreckt sich nach Süden bis zum Golf von Mexiko.“ Geografen würden sagen: Daran ist bestenfalls die Hälfte wahr. Der Dichter sagt: So ist es.

Dieser Erinnerungstext hat mit der so genannten Wirklichkeit und den Lebensdaten Faulkners nur einige Stationen gemein, dafür mit Yoknapatawpha County, seiner mythischen Romanheimat, seinem Schriftstellerleben alles. Unter eine Landkarte jenes Landes hat er einmal geschrieben: „William Faulkner, alleiniger Besitzer und Eigentümer“. „Mississippi“ ist der Schlüsseltext, ein Entschlüsselungstext dazu. Dass er noch nie auf Deutsch erschienen ist, ist fast unglaublich, dass er jetzt von Roland Reuß und Peter Staengle in der Stroemfeld-Reihe „text edition“ als Originalmanuskript wiedergegeben und mit allen Streichungen und Umarbeitungen übersetzt und kommentiert wurde, ist ein großes Leseglück.

Weltverdurstung

Christoph Ransmayr: „Strahlender Untergang – Ein Entwässerungsprojekt oder Die Entdeckung des Wesentlichen“. S. Fischer Verlag 2000, 61 Seiten, 20 DM

Was für ein Titel für ein Erstlingswerk. Kein Wunder, dass es beim ersten Erscheinen 1982, damals noch dramatisch bebildert mit Sonnenuntergängen, keiner kaufen wollte: „Die Entdeckung des Wesentlichen“. Damit treten Propheten in die Welt. Oder Scharlatane. Christoph Ransmayr traute man das Prophetische wohl noch nicht so zu. So blieb das kleine Buch unentdeckt.

Doch dann schrieb er mit „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“, „Die letzte Welt“ und „Morbus Kithahara“ drei außerordentlich erfolgreiche Weltversumpfungs-, Weltvereisungs-, Weltversteinerungsepen. Und da dachte man sich bei seinem Verlag, dass man es ja jetzt noch mal versuchen kann mit dem dramatischen Beginn der Ransmayr-Karierre, dass man ihn sozusagen noch mal mit großer Geste auftreten lassen könnte, mit der Neuauflage seines Erstlings. Dem Weltverdurstungsepos „Strahlender Untergang“. Die Sonnenuntergangsbilder ließ man diesmal weg. Aber das dramatische Versprechen des Weltuntergangs im Titel wird durch den Text vollkommen ausreichend eingelöst. Mit Pathos, Pathos und großen Worten, von denen die Allerallergrößten auch noch kursiv gesetzt werden: „Ich bitte Sie zu bedenken, dass die Zukunft auch der belebtesten Landschaft Wüste heißt . . . und die Zukunft selbst der bizarrsten Existenzwelten der Kohlenstoffwelt verschwinden.“ Sie sehen, Leser, Leserin, es geht ums Ganze. Es geht um Wüste, geht um Verschwinden. Der Mensch hat verspielt, hat durch „so genannten Fortschritt“ den Blick für das Wesentliche verloren, sammelte Daten statt Wissen, Reichtum statt Tiefe. Ransmayr verkündet die Lehre vom Wesentlichen, der Mensch hat es verdient. Die Lehre vom Wesentlichen ist die Lehre vom Verschwinden. In der einen großen Wüste.

Nein, nein, er sei zwar nicht vernarrt in Untergangsszenarien, hat er kürzlich der Neuen Zürcher Zeitung erklärt, aber wahr sei doch auch: „Menschenleere ist keine Traumwelt, sondern der Normalzustand.“ Er persönlich sei jedenfalls nicht interessiert an einer Zukunft, in der vor „Zuchtgesundheit strotzende Börsenzombies mit der Lebenserwartung von Meerschildkröten um die Novellierung neuester Pensionsregelungen kämpfen“.

In seinem Erstlingswerk heißt es dazu: „Halluzinationen, Bewusstlosigkeit, Schmerzfreiheit, Denkstopp, aus. So einfach ist das. Aber auf dem erlösenden Weg dahin, hat es geheißen, könnten durchaus und kurzfristig schmerzhafte Phrasen eintreten, flüchtige Phrasen des Untergangs.“ Ähem. Phrasen? Nein, nein. „Phasen“ waren natürlich gemeint. Eine letztes Verlesen, eine letzte Entschuldigung. Halluzinationen. Denkstopp. Aus.

Warum, Owen?

Russell Banks: „John Brown, mein Vater“. Aus dem Amerikanischen von Inge Leipold. Luchterhand Verlag 2000, 860 Seiten, 59 DM

Das ist ein echter Leseschock, eine Leseerschütterung, eine unerhörte Leseenttäuschung: Wenn bei einem dramatischen, einem historischen, einem großen 860-Seiten-Epos entscheidende sechzehn Seiten fehlen. Wenn auf Seite 560 plötzlich und unerwartet Seite 577 folgt und auf: „Binnen weniger Wochen war alles so als“ auf einmal: „Sie seufzte tief: ;Was soll ich darauf antworten, Mister Brown?‘ “ Und kurz darauf erschießt Owen Brown, die Erzählerfigur, seinen besten Freund, Marys Ehemann. – Was war Owens Frage an Mary? Was haben die beiden besprochen? Ein Liebesgespräch? Ein Mordkomplott? Liebt Owen Mary? Oder etwa ihren Mann? Ich werde dahingehen, und es nicht gelesen haben. Es ist ein Jammer.

Es fällt auch schwer, da noch enthusiastisch von diesem Werk zu schreiben. Dabei hat es das verdient. Es ist der Roman einer Obsession, einer moralischen Obsession, es ist die Lebensgeschichte von John Brown, des wohl größten weißen Sklavereifeindes des 19. Jahrhunderts, die Geschichte seiner fortschreitenden Radikalisierung bis hin zu blankem Fanatismus, zu Terror und Gemetzel. Bis hin zum Überfall auf das Waffendepot in Harpers Ferry im Herbst 1859, mit dem die Browns den einen großen Sklavenaufstand initiieren wollten, der den Auftakt bilden sollte zur endgültigen Abschaffung der Sklaverei, und dem kein einziger Sklave folgte. Und es ist die Geschichte von Owen Brown, dem Sohn John Browns, den der eiserne Griff des gottgleichen väterlichen moralischen Rigorismus schließlich zerbricht. Es ist ein großes, weit ausholendes, im besten Sinne altmodisches Epos, das nur am Ende ein wenig plötzlich sehr rasch zusammenschnurrt. (Aber was ist das schon gegen sechzehn fehlende Seiten mittendrin.)

Ah. Aktuelle Meldung vom Verlag: Die Seiten fehlten nur bei meinem Exemplar. Nur bei meinem! Sie, Leser, Leserin, Käufer, Käuferin, Sie werden nicht enttäuscht werden. Sie nicht. Kaufen Sie! Lesen Sie! Und schreiben Sie mir, wen Owen liebte.

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