piwik no script img

In den Himmel hineinkotzen

■ Bremen neu erleben: Wenn Bon Jovi das Weser-stadion rockt, packt sogar die Bremer der Frohsinn, ganz ohne staatliche Verordnung

Unsere zweidimensionalen Freunde von MTV, Beavis und Butthead, liefen in der Kunst der Beleidigung immer zu Höchstform auf, wenn ein Bon-Jovi-Video es wagte, ihnen unter die Augen zu kommen. Und wenn es jemals zu einem „Celebrity Deathmatch“ zwischen ihnen und Jon kommen würde, gäbe es Blutwurst, garantiert – und oben drauf eine blonde Föhnlocke. Es gehört zum guten Ton unter Menschen, deren Selbstbeschreibung „I'm a rocker, baby“ lautet, den süßen Blonden mit dem Knackarsch zu hassen. Nichts als Neidkomplex vermutlich. Und bezeichnenderweise finden sich dann beim Konzert doch jede Menge ältliche Jungs ein, deren Bauch auf intensive Bierrituale inklusiv all der anderen Rockerattribute schließen lässt.

In schönster Eintracht klatschen sie sich die Arme aus dem Schultergelenk zusammen mit einer ganz arg anderen Zielgruppe: weibliche Pubertierende, denen immerhin hoch anzurechnen ist, dass sie bei Bon Jovi das Theaterstück „Ich raste aus“ geben statt bei all den anderen zur Auswahl stehenden Boygroups. Pam, Pam, Pam, klatscht es da vom allerersten Moment des allerersten Stücks an mit eisernem deutschen Berserkertum, so als befände man sich im Blauen Bock kurz vor der Bämbelübergabe oder als hätte sich eine Bombensalve des Ersten Weltkriegs ins 21. Jahrhundert verirrt: Rock als Marschbegleitung auf dem Weg zur eigenen Ekstase.

Bei VW durfte Bon Jovi nur den klitzekleinen Polo bewerben. Als akustisches Aufputschmittel aber toppt er die Konkurrenz. Zumindest in Bremen. Weder bei Bruce Springsteen noch bei den Stones gab es auch nur annähernd so viele Arme, die im Kollektiv Meereswelle spielten, wie bei Jon. Dabei macht der Mann doch nur grundsoliden Rock mit einer schönen Stimme, die aber live sowieso nicht zur Geltung kommt. Doch die vielen verzückt mitsingenden Jugendlichen beweisen, wie viele Menschen der 38Jährige heute immer noch durch ihre erste Liebesbeziehung und den letzten Schulstress begleitet. Bei „It's my life“ zeigen die Videowände einen Brei aus Action-Filmsequenzen, wo Kerls über die Dächer fahrender Autos springen. Und ist unser Leben nicht ein permanentes Springen über Autodächer, auch wenn es oberflächlich betrachtet eher wie eine Tasse Kamillentee aussieht?

Bei aller Freude über das Überleben der kollektiven Begeisterungsfähigkeit beim Menschen und beim Bremer, irgendwie ist es doch beängstigend wie viel Fiktionalität unser Empfinden akzeptiert: Während auf den Videowänden mit ihrer Unschärfe alles da ist – schwarze Lederkluft, unbändiges, masochistisches Haar, das mit wilder Hand aus dem Gesicht gefegt werden will, Schnute (siehe Fotodokument), Hockstellungen A bis G – ähnelt der echte Bon Jovi einer Zecke, einem Tintenklecks, einem Brotkrümel. Wahrscheinlich war es auch in Wahrheit nur ein Brotkrümel, das da mit zwei Ladys aus dem Publikum Pars pro toto tanzte und scherzte und damit die versammelte Mädchenschar im Publikum zum Wettbewerb „Wer kreischt am lautesten?“ motivierte. Egal, dieses Brotkrümel verwandelte immerhin das Weserstadion in ein funkelndes Diadem, das am Ende sogar Funken in den Himmel kotzte. bk

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen