: Wettrennen um Tantelfintling
Sensation: Neuer Speisepilz entdeckt! Ereignis überschattet von Streit unter Mykologen
HAMBURG taz ■ Am Mittwoch trat der Vorstand der Deutschen Mykologischen Gesellschaft (DMG) vor die Presse und konnte mit einer kleinen Sensation aufwarten. Was in den vergangenen Wochen höchstens in Fach- und Laienkreisen für erhitzte Gemüter gesorgt hatte, ist nun zur Gewissheit geworden. Der Tantelfintling konnte erstmals als neu entdeckte, eigenständige Pilzspezies einer interessierten Öffentlichkeit präsentiert werden. Damit hat das fieberhafte Wettrennen der letzten fünfzig Jahre einen krönenden Abschluss gefunden. Auf einen lateinischen Namen habe man sich bisher noch nicht einigen können, so Pressesprecher Karl Plesser. Aber, man könne versichert sein, die Freude über die vom Forschungsteam um Dr. Zechmann erbrachten Leistungen sei groß.
Dass es einen Tantelfintling geben muss, galt seit nahezu fünfzig Jahren als unbestritten, nur war es bisher niemandem gelungen, diesen Pilz zu finden. Erst die optimale Witterung des Sommers 2000 habe endlich den Wuchs zweier Exemplare in einem Fichtenwald nahe der Stadt Höxter begünstigt. Es handele sich beim Tantelfintling um einen außergewöhnlich gut aussehenden, anmutigen Röhrling. Der Hut in Steinpilzhellbraun gehalten, die Lamellen marlbororot, der Stiel leuchtend gelbbräunlich wie bei jungen Maronenröhrlingen. Das Fleisch zartbeige und von ausgezeichnetem Geschmack. Noch seltener, noch köstlicher, noch kostbarer als Trüffel. Die Augen des Pressesprechers funkelten bei diesen Worten beweiskräftig.
Die freudigen Ereignisse in Hamburg wurden jedoch durch eine nur wenige Stunden später von der Alternativen Pilzgesellschaft (APG) in Pinneberg einberufenen Pressekonferenz überschattet. Man habe im Gegensatz zur DMG den „wahren“ Tantelfintling entdeckt, versicherte Vorsitzender Dr. Christian Raetsch. Der unscheinbare Blätterpilz wachse praktisch überall, sei also in arktischen, subtropischen und alpinen Regionen heimisch. Sogar in Wüstenregionen und im Einzugsgebiet des Amazonas sei er massenhaft nachgewiesen worden. Der Tantelfintling, der je nach Standort willkürlich Form und Farbe ändern könne, sei ferner nicht als Speisepilz geeignet, sondern vielmehr komplett ungenießbar und weise eine geringe Konzentration halluzinogener Substanzen (u. a. Psilocybin, Psilocin, THC, Backpulver, Mescalin) auf.
Die Reaktionen der DMG ließen nicht lange auf sich warten. Hardliner sprachen von „unfassbar peinlicher Selbstshow“ Raetschs und „purer Stimmungsmache“. Ansehen und Kompetenz der deutschen Mykologie im Ausland stünden auf dem Prüfstand. Der Spiegel schrieb: „Dieser Richtungsstreit widerspiegelt nur aufs Neue das derzeit stark belastete Verhältnis von Schul- und Alternativmykologie.“ Doch der Riss geht tiefer. Der APG steht das Wasser bis zum Hals. Fachkräfte beklagen extrem untertarifliche Bezahlung, trübe Karriereaussichten und laufen scharenweise zur DGM über. Vor dem Hintergrund ständiger Machtintrigen im Vorstand und dem schleichenden Verlust an wissenschaftlicher Seriosität benötige die APG dringend einen Prestigeerfolg. Doch der rapide Imageverfall könne auch mit blindem Aktionismus nicht aufgehalten werden, so Brancheninsider. Eine große Chance sei ohne Not von Raetsch vertan worden.
Ein Sprecher der DMG schien heute gegenüber unserer Zeitung um Schadensbegrenzung bemüht: „Wir sind im Augenblick nicht an einer weiteren Zuspitzung der Situation interessiert.“ Auch im Hinblick auf Mitglieder in den eigenen Reihen sprach er davon, es sei „voreilig und völlig unnötig viel mykologisches Porzellan zerschlagen“ worden. Vielmehr komme es an der Schnittstelle zum 21. Jahrhundert darauf an, die gewonnenen Erkenntnisse über den Tantelfintling auszuwerten und im Interesse aller Pilzfreunde gemeinsam nach vorne zu schauen.
MICHAEL RUDOLF
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