: Teilchensuche im Meer
Im Mittelmeer, in 4.000 Meter Tiefe, bauen Astronomen eine riesiges Teleskop zusammen. Sie wollen damit Neutrinos einfangen, die mit annähernder Lichtgeschwindigkeit durch den Erdball hindurch aus dem Weltall geschossen kommen
von FELIX WÜRTENBERGER
Physiker kommen bisweilen auf seltsame Ideen. Sie bauen ein Teleskop, um nach Schwarzen Löchern im Universum zu suchen, versenken es tief im Meer und richten es dann auch noch nach unten aus, zur Erde hin, statt nach oben, gen Himmel.
Was sich wie ein Schildbürgerstreich anhört, ist durchaus seriöse Wissenschaft. Mit dem so genannten Nestor-Teleskop, einer 300 Meter hohen Aluminiumkonstruktion mit unzähligen Lichtsensoren, will ein internationales Forscherteam vor der griechischen Küste Elementarteilchen aus dem Weltall nachweisen. Die Wissenschaftler aus Griechenland, Deutschland, Italien und Russland haben sich der so genannten Neutrino-Astronomie verschrieben.
Diese relativ neue Disziplin will die Himmelsbeobachtung revolutionieren. Unser bisheriges Wissen über entfernte Gestirne beruht fast ausschließlich auf der Beobachtung von Photonen, den Teilchen also, aus denen Licht und andere elektromagnetische Wellen wie Röntgenstrahlen bestehen. Nun schleudern Sterne und andere Himmelskörper noch andere Teilchen in unsere Richtung – eine riesige brachliegende Informationsquelle für die Astronomie. „Es gibt über 200 Elementarteilchen, warum nutzen wir nur das Photon zur Himmelsbeobachtung?“, fragt sich Leonidas Resvanis, Direktor des Nestor-Instituts in Pylos.
Das Neutrino ist eine echte Alternative. Es lässt sich weder von den magnetischen Feldern der Sterne noch vom Materiestaub im Weltraum aus der Ruhe bringen. Unbeirrt fliegt es geradeaus und kommt deswegen immer genau aus der Richtung seines Ursprungsorts – eine wichtige Voraussetzung, um als Informant für die Astronomie in Frage zu kommen. Diese Geradlinigkeit hat aber eine Kehrseite: Da sich die flüchtigen Besucher durch nichts aufhalten lassen, ist es fast unmöglich, sie aufzufangen. Manchmal, ganz selten, rast ein Neutrino hier auf der Erde in einen Atomkern und reagiert mit ihm – zu erkennen an einem winzigen Lichtblitz.
Nach diesen Lichtblitzen sucht Resvanis im Mittelmeer. Das bizarre Neutrino-Teleskop, das von Wissenschaftlern der Universität Kiel entwickelt wurde, ist im Grunde nichts weiter als eine komplizierte räumliche Anordnung hochsensibler Lichtdetektoren. In seiner Badewanne müsste Resvanis Jahrhunderte auf einen Neutrino-Lichtblitz warten. Beim Nestor-Projekt rechnet der Physiker mit einer höheren Ausbeute. „Ein Neutrino-Nachweis am Tag, da wäre ich schon froh.“ Und er schickt hinterher: „Neutrino-Forscher brauchen vor allem eins: Geduld.“
Dabei mangelt es nicht an eintreffenden Neutrinos: Viele Milliarden prasseln jede Sekunde auf einen Quadratmeter der Erdoberfläche nieder. Im Durchschnitt reagiert aber nicht einmal eines davon mit irdischer Materie. Da fast alle Neutrinos den Erdball ungestört durchqueren, liegt es nahe, die Detektoren nach unten auszurichten. Was nämlich nach 12.000 Kilometern Reise durchs Erdinnere den Messgeräten ins Netz geht, ist mit Sicherheit ein Neutrino – andere kosmische Teilchen schaffen das einfach nicht. Resvanis nutzt die Erde als riesigen Filter, um alles auszublenden, was ihn nicht interessiert. Trotzdem muss die Anordnung auch nach oben vor dem Bombardement anderer Teilchen geschützt sein. Das besorgen die vier Kilometer Wasser, die das Teleskop vom Meeresspiegel trennen.
Die ersten Detektoren wurden deshalb in leer stehenden Bergwerksstollen vergraben. „Aber mehr als vierzig Meter Durchmesser ist bei unterirdischen Experimenten kaum drin“, sagt Resvanis. „In der Tiefsee sind uns dagegen im Prinzip keine räumlichen Grenzen gesetzt.“
Wenn die Nestor-Detektoren einen der begehrten Lichtblitze registrieren, lässt sich berechnen, woher das Neutrino kam – das erst macht das Messgerät zum Teleskop. Resvanis träumt davon, auf diesem Weg eines Tages den ganzen Himmel zu kartieren. Das Verlockende daran: Auf einer solchen Karte wären Objekte verzeichnet, die der herkömmlichen Astronomie entgehen. Die schwarzen Löcher zum Beispiel, die im Zentrum von Galaxien vermutet werden.
Mit schwarzen Löchern beschäftigt sich die an Nestor beteiligte deutsche Gruppe höchstens nach Feierabend. Die Forscher der Universität Kiel schlagen sich mit greifbareren Problemen herum. Welches Material ist leicht, kostengünstig und zudem über Jahre salzwasserfest? Wie bringt man die Tonnen schweren Teleskopteile an ihren Bestimmungsort in 4.000 Meter Tiefe? Wie gelangen die Messdaten zu den Wissenschaftlern aufs Festland? Für Peter Koske, den Leiter des Kieler Teams, sind solche Fragen kein Neuland. Schon in den 80er-Jahren arbeitete der Experte für Meeresmesstechnik bei Dumand mit, einem kleineren Vorgängerprojekt vor Hawaiis Küste, das inzwischen aufgegeben wurde.
An der Entwicklung des Nestor-Telekops, das in Aufbau und Material stark vom Dumand-Typ abweicht, arbeitet man in Kiel seit 1992 und experimentiert mit einem Prototyp im Büsumer Hafen. Inzwischen sind die technischen Details weitgehend geklärt: Das Teleskop wird aus 12 übereinander montierten Aluminiumsternen bestehen, die an ihren Spitzen Lichtdetektoren tragen. Über ein 25 Kilometer langes Glasfaserkabel werden die Messdaten ins Nestor-Institut in Pylos übertragen.
„Zur Zeit kämpfen wir mit der Installation“, sagt Koske. Die Aluminiumsterne werden nacheinander von Schiffen ins Meer abgesenkt und am Meeresboden verankert. Koske ist zuversichtlich, dass bis zum Frühjahr die ersten Teleskopebenen auf Empfang sein werden. Die Kosten des Projekts – maximal 5 Millionen Dollar, schätzt Koske – werden teils aus den Etats der beteiligten Universitäten, teils aus Mitteln eines deutsch-griechischen Forschungsabkommens bestritten.
Was derzeit vor der griechischen Küste im Meer aufgebaut wird, wollen Resvanis und Koske nur als Vorläufer verstanden wissen. Wenn alles klappt, soll es irgendwann ein Nachfolgeteleskop geben. „Es könnte ein Wasservolumen von einem Kubikkilometer nach Neutrino-Einschlägen absuchen“, schwärmt Resvanis. Wann es so weit sein wird? „Das werde ich nicht mehr miterleben“, sagt Resvanis und lacht. In der Neutrino-Astronomie gilt eben ein anderes Zeitmaß.
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