Souvenirs, Souvenirs: der Becher

Ihr Kurschatten war ein extravaganter silberner Becher zum Zusammenfalten. Aus der flüchtigen Begegnung wurde eine lange Suche auf den Flohmärkten vieler Städte. In New York fand sie ihn wieder. Und er hatte längst auf sie gewartet

von BABARA SCHAEFER

Es begann im Schwarzwald. Wir zogen von Kurort zu Kurort und ließen uns von Kurdirektoren und Kurbürgermeistern ihre Kurbäder vorführen. Die Mitreisenden waren im Alter von Kurgästen, nach dem Abendessen fuhr der Bus stracks ins Kurhotel zurück, die Hotelbar war, vielleicht mangels Nachfrage, bereits geschlossen. Man wünschte Gute Nacht, aber eine ältere Dame zog mich beiseite. Ich sei doch sicher noch nicht müde. Die Dame war vermutlich die älteste Reiseteilnehmerin, auch wenn man ihr das erst auf den zweiten Blick ansah und weiß Gott nicht anmerkte. Vielleicht wäre ja noch ein Fläschchen aufzutreiben, man könnte ja noch auf dem Zimmer . . .

Sie sagte es halblaut. Hätte sie es leise gesagt, hätte ich den Nachtportier mit der Frage nach einer Flasche Wein in Verlegenheit gebracht. Hätte sie es laut gesagt – aber sie hätte es nicht laut gesagt. Die Dame war aus Hamburg, Contenance vom grau ondulierten Haar bis zu den Pumps. Sie sagte es halblaut, und so hörte es außer mir noch der Busfahrer, für den es ohnehin bestimmt war. Der musste nichts organisieren, er ging nur kurz in seinen Bus.

Wir schlichen über den Hotelflur wie auf Klassenfahrt. Bei der Dame dürfte das mehr als ein halbes Jahrhundert her gewesen sein, aber sie war in Übung geblieben. Noch flüsternd fing sie zu erzählen an. In ihrem Hotelzimmer sollten wir uns setzen. Das Bett käme allerdings nicht in Frage, das hätte keinen Stil. Es gab nur einen Stuhl, also blieb uns nur die Auslegware. Sie erzählte und erzählte. Sie erzählte ihr Leben, ausdauernd und ohne Unterbrechung.

Den Details zu folgen war schon an dem Abend nicht möglich, geschweige denn aus der Erinnerung. Es ging um eine Industriellenfamilie, sie fiel in Ungnade, vielleicht eine falsche Heirat oder eine sonstige Ungezogenheit. Sie brach mit allen, wurde enterbt. Sie ging ins Ausland und hatte schließlich eigenen gesellschaftlichen Erfolg. So ungefähr. Jedenfalls klang ihre Geschichte sehr nach Hamburg.

Im Laufe des Abends wurde die Rolle, die sie dem Busfahrer zugedacht hatte, offenkundig. Dass er Wein und Whisky zur Hand hatte, war eine angenehme Nebenerscheinung. Wichtig war etwas anderes. Die Dame aus Hamburg teilte die Menschheit in zwei Kategorien ein: Männer und Frauen. Männer sind interessant, Frauen, na ja.

Der Busfahrer war ihr Publikum, ihm erzählte sie, die Beine anmutig auf den Teppich gewinkelt, ihre Lebensgeschichte. Der Busfahrer war von eher schlichtem Gemüt, aber das spielte keine Rolle, solange er nur ab und zu ein Soso, Achja herausbrachte. Mich hatte sie nur mitgenommen, weil es nicht in Frage gekommen wäre, alleine mit dem Busfahrer auf dem Zimmer zu verschwinden. So aber waren wir eine gesellige Runde, da kann man tolerant sein, da darf auch der Busfahrer mit.

Wir tranken den Wein aus einem Bierglas, das in Zellophan eingepackt auf der Minibar stand, und aus einem Zahnputzbecher. Wir: der Busfahrer und ich. Sie kramte aus ihrem ledernen Kosmetikköfferchen eine kleine runde Box hervor, daraus nestelte sie ein metallenes Ding, das sich mit einem Handschütteln elegant zu einem Becher entfaltete. Daraus trank sie.

Mittlerweile war ihr amüsanter Fortsetzungsroman ungefähr in der Jetztzeit angelangt. Die Liebe meines Lebens, sagte sie. Er sei vor einem halben Jahr gestorben, er war Kapitän. Ich wagte eine Frage. Ob sie eine lange schöne Zeit miteinander gehabt hätten. Nein, antwortete sie, keine lange Zeit. „Wir kannten uns nur zwei Jahre. Aber jeder Tag davon war mehr Glück als mein ganzes bisheriges Leben.“ Dann hob sie ihren Becher, rief: „Mein Kapitän!“ und kippte den Whisky mit einem Schluck hinunter. Sie lachte und schaute nach oben, zur Nut-und-Feder-Kiefernholz-Decke, eine Träne lief ihr bis zum verschmierten Lippenstift.

Am nächsten Morgen war sie eine der ersten am Frühstücksbüfett, etwas pastos geschminkt zwar, aber aufrecht. Da war mir endgültig klar: So ein Becher muss her. Aber der Erwerb eines solchen erwies sich als äußerst schwierig.

Ich wohnte in Stuttgart und suchte Antiquitätenhändler und Flohmärkte nach einem solchen Becher ab; immer wieder fragte ich: Ich suche so ein Reiseutensil, so einen Becher, aus Metall, vielleicht aus Silber, den man auseinander klappen kann. Die meisten schauten, als hätte ich nach dem Ei des Kolumbus gefragt, manche sagten, jaa, hätten sie schon mal gesehen, aber gerade sei so etwas nicht da. Ich wusste immer noch nicht, wie der Becher heißt,und ich weiß es bis heute nicht.

Auch der kluge Attilio Brilli konnte mir nicht weiterhelfen. Zwar schreibt er in „Als das Reisen eine Kunst war“ ausführlich über nécessaires de voyage, worin auch so ein Becher gewesen sein mochte, allein beim Namen nennt er ihn nicht. Aber er weiß immerhin zu berichten, worin dessen wichtigste Funktion besteht: „den Reisenden auf anstrengenden Fahrten oder bei unvorhergesehenen Unterbrechungen, in der Kutsche oder in irgendeinem gottverlassenen Gasthaus durch seinen bloßen Anblick der beruhigenden Gegenwart des Luxus zu vergewissern“.

Ich zog nach Berlin, die Suche ging weiter. Auf Flohmärkten derselbe Unverstand über mein Begehren, aber im Antik-Markt in den S-Bahn-Bögen an der Friedrichstraße sah ich ihn dann zum ersten Mal. Ja, raunte ein mürrischer Händler, kramte in Schubladen und zog einen Faltbecher hervor – aus gelbem Plastik. In einem anderen Laden wühlte ein noch mürrischerer Mensch in einer Vitrine, ja, er habe einen. Doch dieser sah seltsam blechern aus, so gar nicht nach nécessaire de voyage, eher nach Tornister, zudem sollte er 180 Mark kosten. Irgendwie doch nicht der Richtige.

In New York breiten sich am Wochenende Flohmarktstände auf jedem Parkplatz entlang der 25sten Straße aus. Dazwischen steht das Chelsea Antiques Building, zwölf Stockwerke voller Antiquitäten, Trödel und Kitsch. Zwölf Stockwerke, und nicht ein Becher.

Nebenan gibt es nur zwei, allerdings riesige Stockwerke. „The Garage“ heißt nicht nur so, es ist ein Parkdeck, ein überdachter Flohmarkt. Schon recht matt strich ich um die Tische, da sah ich eine kleine runde Box, nebensächlich machte ich mich daran zu schaffen. Ein freundlicher Mann sprang herbei, öffnete das schwarzlederne Schächtelchen, darin gebettet – in rotem Samt – glänzten mich golden sechs konzentrische Ringe an (ich habe sie eben beim Schreiben nachgezählt). „A telescope cup“, erklärte er.

Mit einem Handschütteln entfaltete der Standbesitzer die Ringe zu einem Becher. Außen verchromt, mit einem zierlichen Henkelchen zum Herunterklappen, „für heiße Getränke, damit man sich nicht die Finger verbrennt“. Das sei ja ganz hübsch, was es denn so kosten solle, fragte ich desinteressiert. Well, so oft habe er so was nicht: fünfzig. Ich jubilierte innerlich, zögerte äußerlich. „Okay, vierzehn“, sagte er. Ich begriff das kolossale Missverständnis, er hatte fünfzehn, fifteen und nicht fifty, gesagt.

Oben auf der Box prangen fünf metallene Großbuchstaben, RV JPG, manchmal versuche ich, daraus den Namen einer Dame zu entwerfen. Als ich auf dem Becherboden den eingravierten Herstellernamen sah, wusste ich, dass dieser Becher auf mich gewartet hatte. Natürlich konnte ich ihn nicht zu Hause erwerben, es musste unterwegs sein! Denn auch der Becher hatte eine Reise hinter sich, hergestellt von „Cross“ in Berlin.

Hinweise:Mit einem Handschütteln entfaltete sie das kleine metallene Ding zu einem Becher„Ich suche so ein Reiseutensil, so einen Becher, aus Metall, vielleicht aus Silber . . .“