: Lücke im Lebenslauf
Hände waschen, Haare kämmen, pünktlich kommen und bloß kein Knacki aus dem Osten sein: Eine kurze Geschichte über die Sache mit dem „Hüben und Drüben“ bei einem Weiterbildungseminar in Bewerbungskommunikation
Das Forumhotel hüllt sich in Wolken, der Fernsehturm ist kaum zu erkennen. Ihr Blick schweift aus dem Fenster des sechsten Stocks über dem Alexanderplatz. „Es ist also ratsam, dass Sie Ihre Hände waschen, bevor Sie zum Bewerbungsgespräch gehen!“ Herr O., der heutige Dozent der Weiterbildungsmaßnahme, schaut auf das Häuflein arbeitsloser Geisteswissenschaftler, die er in „Bewerbungskommunikation“ fit machen soll.
Der aus Bielefeld stammende Therapeut hatte eingangs durch die Frage verblüfft, wer denn „drüben“ noch kein Bewerbungsgespräch absolviert hätte. „Wie drüben?“, fragte pikiert die Spandauer Kollegin, immerhin schreiben wir das Jahr 10 nach der Wiedervereinigung. Nachdem das Hüben und Drüben geklärt war, meldete sich Frau H., und Herr O. schenkte ihr fortan besondere Aufmerksamkeit. „Wann würden Sie denn zum Termin erscheinen, zehn Minuten vorher oder fünf?“ Frau H. ist die jüngste im Kurs und fühlt, wie ihr unaufhaltsam der Faden entgleitet. Neben ihr räuspert sich Herr S. unwillig, er ist mit 56 Jahren der älteste Teilnehmer der Gruppe. „Was würden Sie denn gegen Schweißhände unternehmen?“, fragt Herr O. und fixiert sie. Frau H. schaut auf ihre Hände und gibt keine Regung von sich, ein anderer antwortet hilfsbereit: „Vielleicht sollte man immer ein Taschentuch einstecken haben?“ „Genau, und die Haare sollte man sich auch noch einmal kämmen, bevor man zum Gespräch hineingeht!“
Es reicht, ihre Empörung bricht sich zunächst in gespielter Gleichgültigkeit Bahn, doch beim nächsten Ausrutscher wird sie explodieren. Frau H. muss nicht lange in den verhangenen Himmel blinzeln. „Also, wie erklären Sie Ihrem Abteilungsleiter, dass Sie ganze 15 Semester studiert haben, gibt es da Vorschläge?“ Sie hört noch einen Moment lang zu, wie eine Kommilitonin vom Kinderkriegen erzählt, dann wirft sie ein: „Ich denke, wir haben da ganz andere Probleme, ich kann zum Beispiel zwei Jahre in meinem Lebenslauf gar nicht erklären!“
Herr Otto zieht begeistert die Augenbrauen hoch: „Dann kommen Sie doch mal bitte nach vorne!“ Sie nimmt zögernd an seinem „Spieltisch“ Platz, verschränkt die Arme und schaut ihn abwartend an. „Dann erzählen Sie doch bitte mal, wie Ihr beruflicher Werdegang ablief.“
Sie fasst sich kurz, die zwei Jahre nach dem Rausschmiss bei der Abteilung Kultur des Rates der Stadt Magdeburg existieren offiziell nicht in ihrer Vita – in der DDR gab es keine Arbeitslosen. „Ich habe Klamotten genäht und saß dann im Knast.“
Schweigen, ihm entgleitet das akkurate Lächeln des Gesprächsführers. Endlich murmelt Herr O.: „Tja, also, ich weiß auch nicht, so etwas habe ich noch nie gehört, tja, das wird dann schwierig mit dem neuen Arbeitgeber, das werden Sie erklären müssen.“
Hilflos winkt er sie auf ihren Platz zurück, in der Gruppe entsteht Bewegung. „Mensch, was erzählen Sie denn da, so eine Biographie ist doch typisch für den Osten. So jemanden würde ich viel lieber einstellen als die glatten Absolventen, die frisch und unbedarft von der Uni reinschlittern. Da steckt doch Leben drin!“ Herr S. ist sichtlich empört, sein Schnurrbart vibriert, und eine leichte Röte steigt in seine Züge. Unbeholfen reagiert Herr O.: „Also, wenn Sie so bei einem Bewerbungsgespräch auftreten, haben Sie keine Chance!“
Jetzt mischen sich alle ein. Der Philosoph versucht, die Mentalität des Ostdeutschen an sich in wenigen Stichwörtern zu erfassen. Die Dame vom ehemaligen Spandauer Volksblatt erkundigt sich, ob man denn so etwas unbedingt angeben müsse, und Herr O. fragt irgendwann dazwischen, wann Frau H. denn „gesessen“ hätte?
„Na zu Ostzeiten, wegen Republikflucht“, sagt sie und gibt auf sein erstauntes und erleichtertes „Ach, so!“ zurück: „Na was haben Sie denn gedacht?“. Alle lachen, und M. aus der tiefen westdeutschen Provinz bemerkt: „Das war doch klar, ich meine, das hat doch jeder hier begriffen, oder?“ Schmunzeln und Kopfnicken von allen Seiten. Herr O. schweigt mehr als eine Minute, sieht gebannt auf seine Armbanduhr und meint: „Gut, wir gehen dann gleich in die Mittagspause, ich weiß auch nicht recht, wie wir jetzt weitermachen sollen. Mit solchen Geschichten bin ich, ehrlich gesagt, noch nicht konfrontiert worden.“
Im Fahrstuhl wird es dann lustig. „Hände waschen“, entfährt es dem Philosophen, „Haare kämmen“ gibt M. zurück, „so ne Flachzange“, und erst auf der Straße bemerken sie, dass sie erstmals zusammen Pause machen. Alle acht, die heute anwesend waren, gehen zum Italiener um die Ecke, trinken Tee, Wein und Bier und lachen herzhaft über das Bewerbungstraining.
ANNE HAHN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen