piwik no script img

Langer Abschied in Rekordtempo

Der Olympiasieg der deutschen Mannschaftsverfolger verwandelt die Radrennbahn in die Bühne eines Rührstücks

aus Sydney RONALD RENG

Jens Lehmann war endlich da, wo er sein wollte: am Boden. Die anderen drei Fahrer des deutschen Vierers drehten unter dem Applaus der Zuschauer immer noch ihre Runden im Dunc Gray Velodrome, Robert Bartko und Daniel Becke mit großen deutschen Flaggen in den Händen, Guido Fulst nur mit einer kleinen aus Papier. Da war Lehmann, der in seiner ruhigen, zurückhaltenden Art so sympathisch wirkt, bereits abgestiegen von seinem Rennrad und auf den Knien. Er küsste die Bahn. Weniger überraschend als die Geste war seine Erkenntnis: „Schmeckte nach Holz“, sagte er später, „aber immer noch besser als draufzufallen.“ Er mache das immer nach großen Siegen, sagte der 32-jährige Radprofi aus Gera. „Ich wollte mich einfach bei der Bahn bedanken.“

Im Glück über ihre Goldmedaille in der Mannschafts-Verfolgung, gewonnen in Weltrekordzeit von 3:59,710 Minuten, wollten die deutschen Bahnradfahrer gestern nicht alleine bleiben. Das Problem war nur, das nicht jeder, den sie hätten küssen oder drücken wollen, greifbar war wie die Holzbahn.

Diese Goldmedaille gehöre auch Robert Lange, sagte der Berliner Fulst. Wenn Lange nur da gewesen wäre. Er hatte den Vierer ganz neu aufgebaut, nachdem das Team bei den Olympischen Spielen 1996 als Neunter im Kleingedruckten verschwunden war. Der Bundestrainer Lange holte den ausgemusterten Lehmann zurück, er machte den Vierer in dieser Besetzung 1999 in Berlin zum Weltmeister. Sie waren optimistisch, Gold in Sydney zu gewinnen, als sie im zurückliegenden Winter ins Trainingslager nach Mallorca fuhren – und dort am 2. März ein betrunkener Autofahrer in den Wagen von Lange raste. Sie hätten in den nächsten Tagen weitertrainiert, sagt Fulst, sie seien ja Profis, und „man hatte uns nicht genau gesagt, wie schlimm es um ihn stand. Erst als wir hörten, Frau Lange habe ihr Einverständnis gegeben, ihn nicht mehr länger künstlich am Leben zu halten, wussten wir es.“ Als er das erzählte, hatte sich Fulst wieder im Griff. Vorher hatte er gestockt, und die Augen waren nass gewesen, als er sagte: „Heute, der Weltrekord, das war seine Arbeit. Wir wollten ihn nicht enttäuschen.“

Robert Bartko, seit zwei Tagen schon Olympiasieger in der Einzelverfolgung, fuhr nach dem Finalsieg über die Ukraine voraus, die anderen hinterher, die Steilkurve der Bahn hinauf, bis sie die Zuschauer zum Greifen nahe hatten. Dort umarmten sie die Witwe, Gisela Lange. Die Fahrer hatten ihre Prämien von den Deutschen Meisterschaften gestiftet, damit die Frau mit den zwei Töchtern ans andere Ende der Welt fliegen und den Augenblick sehen konnte, von dem ihr Mann immer geträumt hatte.

Doch bei allem Respekt der Welt, den Lange verdient, es wäre unfair, diese fantastische Fahrt über vier Kilometer und vier Minuten in Erinnerung an ihn auf ein einziges Rührstück zu reduzieren. Ungerecht schon Bernd Dittert gegenüber, der den Posten von Lange übernahm und die Arbeit vollendete. Wie schon bei Bartkos Einzelsieg am Sonntag zog sich Dittert auch diesmal in der Stunde des Triumphs zurück, um die Bühne den Fahrern und dem toten Vorgänger zu überlassen. Geredet hatte Dittert nur nach dem Halbfinale. Darüber, wie kompliziert es ist, wenn diese vier dahinrasen, wenn sie sich in der Führung abwechseln, ohne den Rhythmus zu stören.

Das Erste, was von Jens Lehmann nach dem Rennen zu hören war, war Husten. „So eine Holzpiste geht auf die Bronchien“, erklärte er, logisch klang das nicht, aber nachfragen wollte man auch nicht. Es war ein Abend, an dem Lehmann immer recht hatte. Wie Fulst hat auch er schon Gold aus Barcelona 1992. Als ein Jahr danach die Olympischen Spiele 2000 nach Sydney vergeben wurden, sagte er zu seiner Frau: „Da fahren wir noch hin.“ Es sah jahrelang nicht danach aus. Wolfgang Oehme, umstrittener Vorgänger von Lange und Dittert, hatte Lehmann 1996 für zu alt befunden. Mit 32 war er am Dienstag wieder jung genug.

Die letzten vier Runden, als sie um ihren Vorsprung wussten, hätten sie keine besonderen Anstrengungen mehr unternommen, sagte Lehmann, „wir haben auf Sicherheit gemacht, und trotzdem sind wir das erste Team unter vier Minuten.“ Und schwelgte: „Ich bin ja auch Rekordliebhaber.“ Schließlich schnappte er sich noch einmal ein Rad und versuchte, die anderen auf der Ehrenrunde einzuholen. Es war das erste Mal an diesem Tag, dass Jens Lehmann deutlich hinterher fuhr.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen