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Die Revolution in der Mega-WG

■ In der Böttcherstraße stellte die Schultheatergruppe B.E.S.T. ihre neue Produktion „SehensWerte“ vor. Sie handelt von der Revolte und der Sehnsucht nach Regeln. Das Haus des Glockenspiels wird jedenfalls gründlich durchgelüftet

Die Freilichtinszenierung „SehensWerte“ der Jugendtheatergruppe B.E.S.T. am Dienstagabend in der Böttcherstraße begann verwunderlich. Gerade erst hatte das Publikum auf den Bänken vor dem Haus des Glockenspiels Platz genommen. Da rannten auf einmal alle schon vorne stehenden DarstellerInnen, als hätten sie es sich noch mal anders überlegt, in das Haus hinein. Doch als mancher Gast sich schon wieder auf den Nachhauseweg machen wollte, öffneten sich plötzlich die Fenster des Hauses. Aus jedem schaute nun eines von 17 fröhlichen Gesichtern. Und alle lächelten verträumt, der Musik von Schuberts „Lindenbaum“ lauschend. Es sah aus wie ein Puppenhäuschen.

Der „Lindenbaum“ war bald vorbei, die Fenster wurden geschlossen, die Scheinwerfer erloschen: Es war Nacht. Bis das Publikum an seiner empfindlichsten Stelle getroffen wurde: Dem grausamen Piepsen des Weckers. Nun gingen die Scheinwerfer wieder an, die Fenster öffneten sich, die vielen Gesichter schauten heraus und dann putzten sich alle am Fenster die Zähne.

Auf diese Weise bekam man nun Erlebnisse aus dem Alltag von Jugendlichen mit. So konnte eine einsame Frau nachts nicht einschlafen. Kurzentschlossen weckte sie ihre NachbarInnen: Ob jemand sie bei sich schlafen ließe, sie sei doch so einsam? Als Antwort erhielt sie das, was in einem solchen Fall zu erwarten ist: „Weißt du überhaupt wie viel Uhr es ist? Wir haben Nachtruhe! Lies gefälligst mal die Hausordnung!“ Das wurde gleich am nächsten Morgen erledigt. Die Schlaflose las das Paragraphenwerk, sah darin nur Verbote und zerriss den Wisch. Begeistert taten die Nachbarn es ihr nach. Revolution in der Mega-WG. Später, als eine Bewohnerin vergewaltigt wird, stellt eine von ihnen die Hausordnung wieder auf. Paragraph 2: „Es ist verboten ein Mitglied der Hausgemeinschaft zu vergewaltigen.“

Wie wichtig ist denn nun eine Hausordnung? Und was ist die richtige Hausordnung? Für die Jugendlichen ist das Haus ihr Leben und die Hausordnung ihre Lebensordnung. Die Produktion unter der Leitung von Jochen Schmidtmeyer zeigt das Dilemma der Jugend auf: Den Willen zur Emanzipation auf der einen, die Ungewissheit in der Beurteilung von richtig und falsch auf der anderen Seite. Dass Vergewaltigung verboten ist, stand nicht in der Hausordnung. Woher hätte Nils (Marc Wilms) es wissen sollen? Es steht auch nicht drin, ob die junge Physikerin (Franziska Stumper) auf ihr Diplom jetzt stolz sein darf oder nicht. Die verzweifelte Suche nach einer Anleitung zum Leben führt sogar zu Selbstmordabsichten.

Ganze 17 gleichberechtigte DarstellerInnen ohne dramaturgische Probleme in einem Stück unterzubringen, ist natürlich kaum möglich. Klare Handlungsstränge mit großen Charakteren müssen da zwangsläufig ausbleiben. Doch wurde dieses Manko zum einen durch viel Kreativität in der optischen und humoristischen Gestaltung ausgeglichen. Und zum anderen sollte schließlich die Freude am Theater im Vordergrund stehen. Und die hat man den selbstbewusst und unbeschwert auftretenden SchülerInnen deutlich angemerkt.

Johannes Bruggaier

Weitere Aufführungen vom 20. bis 23. und 26. bis 30. September sowie am 1. Oktober jeweils um 21 Uhr vor dem Haus des Glockenspiels in der Böttcherstraße. Infos unter Tel.: 44 54 38 oder 23 30 44.

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