piwik no script img

Ideologisch, stur, sozialdemokratisch?

■ Der Ex-Bildungssenator von Hassel erinnert Henning Scherf, Ulrike Hövelmann und Co an ihre Überzeugungen von 1994

Horst von Hassel (72) ist einer der „Väter“ der alten sozialdemokratischen Schulpolitik, von der sich die SPD derzeit verabschiedet. Er ist Lehrer von Beruf, war Bildungssenator von 1979 bis 1983 und Mitglied im SPD-Landesvorstand von 1993 bis 1995.

taz: Die SPD hat sich von der Schulpolitik der 70er und 80er Jahre, die Sie auch als Bildungssenator einmal mit geprägt haben, verabschiedet.

Horst von Hassel: Die Verfallszeit der eigenen Beschlüsse ist bei der SPD sehr viel kürzer. Noch am 19. Februar 1994 hat die SPD auf ihrem Landesparteitag beschlossen, dass sie an der integrierten Gesamtschule als pädagogischer und bildungspolitischer Perspektive festhalten wolle.

Konkret geht es derzeit um das Abitur in zwölf Jahren.

Dazu hat der Parteitag 1994 beschlossen, dass die SPD – ich zitiere – „den Absichten der CDU/FDP-Bundesregierung, die Schulzeit bis zum Abitur auf zwölf Jahre zu begrenzen, entgegentreten“ will.

Was war die Begründung?

Ich zitiere: „Wer die Schulzeit verkürzt, erschwert die Durchlässigkeit zwischen den Schularten und benachteiligt Haupt- und Realschüler.“ Die SPD lehnte die Aufhebung der Schuleinzugsgrenzen ab und stellte fest, dass die Möglichkeit der stadtweiten Anwahl im Bereich der gymnasialen Oberstufe mit der Gefahr verbunden sei, dass ganze Regionen abgewählt werden. Die Stufenstruktur des bremischen Schulsystems dürfe nicht weiter angetastet werden, bekräftigte die SPD. Genau das droht derzeit.

Wer hat die sozialdemokratische Schulpolitik 1994 formuliert?

Willi Lemke war damals nicht dabei. Ich war Mitglied im Landesvorstand und erinnere mich, dass der Entwurf zu diesem Antrag gemeinsam von dem damaligen Bildungssenator Dr. Henning Scherf, von der bildungspolitischen Sprecherin der SPD-Bürgerschaftsfraktion Bringfriede Kahrs und von der Sprecherin der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Bildungspolitik Ulrike Hövelmann formuliert und in den Landesvorstand eingebracht wurde.

Willi Lemke will die Bildungspolitik nun ideologiefrei gestalten, Ulrike Hövelmann warnt heute davor, unser Bremer Bildungssys-tem ideologisch verbohrt zu betrachten und stur daran festzuhalten.

Ideologiefrei – was ist das? Als einer, der sein aktives Leben in den Dienst sozialdemokratischer Bildungspolitik gestellt hat, erkläre ich ausdrücklich, dass ich auch weiterhin zu diesen „ideologisch Verbohrten“ gehöre und „stur“ an den 1994 formulierten Überzeugungen und Erkenntnissen festhalten will. Was heute als veränderte sozialdemokratische Bildungspolitik formuliert wird, ist in meinen Augen populistische Anpassung an einen vermeintlichen Zeitgeist und durch nichts anderes legitimiert. Wer von Eliteförderung redet, darf nicht schweigen von den vielen jungen Menschen, die ein einseitig effizienz- und ausleseorientiertes Schulwesen auf der Stre-cke lässt.

Auch in der Orientierungsstufe soll der soziale Integrationsaspekt zurücktreten und äußere Differenzierung nach Lernfähigkeit stattfinden. Das berücksichtigt die Kritik vieler Eltern und die Erfahrung der Lehrer, dass die einen unter, die anderen Kinder überfordert sind.

Diese Kritik muss man ernst nehmen. Die richtige Antwort kann aber nur sein: Verbesserung der Lern- und Arbeitsbedingungen, vor allem Verminderung der Klassengrößen. In den 80er Jahren hatten wir 25 Schüler in der OS-Klasse und 39 dafür Lehrerstunden zur Verfügung. Erfolgreiche Arbeit in heterogenen Schülergruppen hat eben ihre Voraussetzung. Wer aber mit Fachleistungsdifferenzierung antwortet, verlagert den Auslesedruck erneut in die Grundschule, die durch die OS gerade befreit war zu pädagogischer Arbeit.

Fragen: K.W.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen