: Die Machtprobe steht noch bevor
Nach 13 Jahren, mehreren Kriegen und zahllosen Demonstrationen können es die Bürger Serbiens kaum glauben, dass die Ära Milošević zu Ende sein soll
aus Belgrad ANDREJ IVANJI
Anfangs ist die Stimmung gereizt im Zentrum der Hauptstadt. Vor dem Gebäude der Demokratischen Partei warten tausende Anhänger der Opposition in Belgrad auf die ersten Wahlergebnisse. Der Ansager schreit sich heiser, die Lautsprecher sind schwach, man kann ihn kaum verstehen. Denn nur fünfzig Meter weiter findet ein vom staatlichen Fernsehen organisiertes Festival der Volksmusik statt, wohl als Gegendemonstration gedacht.
Eine imposante, grell beleuchtete Bühne, gewaltige Musikboxen. Der heulende Gesang der Stars übertönt alles. Doch kaum hundert Menschen haben sich hier versammelt. Die peinliche Manifestation wird kurz vor Mitternacht mangels Interesse abgebrochen.
Und mit den Volkssängern verschwindet auch der Polizeikordon in voller Kampfausrüstung, der die beiden Gruppen den ganzen Abend auseinander hielt. „Schönen Gruß an Milošević und seine Gattin!“, bestellen ihnen die ausgelassenen Regimegegner.
Und sie haben allen Grund zum Feiern. Alle zehn Minuten liest der Ansager aufgeregt die jüngsten Wahlergebnisse vor: „Cacak, Zentralserbien: insgesamt 70 Abgeordnete. Davon hat die Demokratische Opposition Serbiens 67 Mandate im Rathaus gewonnen, eine unabhängige Bürgergruppe drei und die Milošević-Sozialisten null!“ Die Masse ist begeistert. Man jubelt und feiert im Siegesrausch.
Und so geht es weiter, alle zehn Minuten wieder. Überall hat der Kandidat der Opposition, Vojislav Kostunica, einen gewaltigen Vorsprung gegenüber dem amtierenden Präsidenten Jugoslawiens, Slobodan Milošević. Und die Stimmung verbreitet sich allmählich im ganzen Stadtzentrum.
„Ich kann es nicht fassen! Wir haben ihn weggepustet!“, begeistert sich ein junger Mann und umarmt und küsst alle, die um ihn herum stehen. „Freue dich nur nicht zu früh. Glaubst du wirklich, die ziehen sich jetzt friedlich zurück und gratulieren Kostunica? Das gibt sicher noch Ärger“, ermahnt ihn ein Freund. Aber auch er prostet mit einer Colaflasche allen zu: „Auf den Sieg!“
Die Nachricht über einen möglichen Sieg der Opposition verbreitet sich trotz gleichgeschalteter Medien wie ein Lauffeuer in der Stadt. Die Telefonleitungen sind in dieser Nacht hoffnungslos überlastet. Im Wahlstab der Demokratischen Opposition Serbiens (DOS) herrscht eine nüchterne, aber spürbar zufriedene Stimmung. Am Montag früh um 04.30 Uhr tritt Vojislav Kostunica vor die Presse. Sichtlich erschöpft, mit bebender Stimme sagt er feierlich: „Ich wollte diese Pressekonferenz zum Tagesanbruch, auf dass die Morgenröte endlich Serbien erhelle. Das ist die Morgenstunde unserer Freiheit. Das ist ein großer Sieg Serbiens, Jugoslawiens und unseres Volkes.“ Auf Grundlage der DOS-Angaben habe er, Kostunica, die Präsidentenwahl schon in der ersten Runde gewonnen. Am wichtigsten sei jedoch, dass man bewiesen habe, dass Milošević zu schlagen ist. Kostunica dankte allen, die ihn gewählt und an sein „Konzept des Staates“ geglaubt hätten.
Die Belgrader ahnen in diesen Morgenstunden jedoch, dass mit diesen Wahlen die „Morgenstunde der Freiheit“ noch nicht angebrochen ist. Nach der ersten Euphorie ist es am Montag unnatürlich ruhig in Belgrad. Die Spannung ist überall spürbar. Nach dreizehn Jahren, mehreren Kriegen und unzähligen Demonstrationen können es die Bürger Serbiens im Grunde nicht glauben, dass die Ära Milošević tatsächlich beendet sein soll.
Die Demokratische Opposition (DOS) hat indes ihren Sieg schon mal verkündet. Sie ruft all ihre Anhänger auf, um 19.00 Uhr möglichst zahlreich im Belgrader Stadtzentrum zu erscheinen. Unabhängige serbische Medien warnen davor, sich zu früh zu freuen; erst seien die regierenden Parteien am Zug. Kampflos werde Milošević das Feld sicher nicht räumen.
Überraschend bestätigt am Morgen auch die ultranationalistische Radikale Partei Serbiens, Milošević’ Koalitionspartner sowohl in der Bundes- als auch in der serbischen Landesregierung, den eindeutigen Vorsprung von DOS und Kostunica. Doch das letzte Wort hat die Bundeswahlkommission, und diese hat im Laufe der Nacht alle Vertreter der Opposition rausgeschmissen und die Auszählung vorerst unterbrochen.
„Unser Kandidat, Präsident Milošević, führt souverän. Der Trend zeigt, dass er noch in der ersten Runde siegen wird“, erklärte noch in der Nacht im Staatsfernsehen Ivan Marković, Vertreter der linken Milošević-Koalition. Er sei überzeugt, dass die linke Koalition auch die Bundeswahlen überlegen gewinnen wird. Freude war in seinem Gesicht jedoch nicht zu erkennen. Und nach dieser Erklärung war aus den Reihen der regierenden Parteien nichts mehr zu vernehmen.
Nach Berichten von Radio 021 aus Novi Sad, das sich dabei auf Quellen aus der Sozialistischen Partei Serbiens beruft, wollte das Regime gestern Abend verkünden, es würde in zwei Wochen eine Stichwahl zwischen Milošević und Kostunica geben. Gerüchten zufolge hat der jugoslawische Ministerpräsident Momir Bulatović wegen der Wahlergebnisse seinen Rücktritt von allen Ämtern eingereicht.
Die regierenden Parteien scheinen verwirrt zu sein. Nach allen vorherigen Wahlen hielten sie unzählige Pressekonferenzen ab, Vertreter des Regimes äußerten sich selbstsicher im Fernsehen, verkündeten immer als Erste ihren Sieg. In den letzten Stunden ist es aber still geworden um Milošević. Der Wahltag ist vorbei. Die Machtprobe zwischen Regime und Opposition steht erst bevor.
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