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Magischer Nicht-Ort

Wo sich die Rastlosen treffen: Jan Bosse inszeniert Kraussers „Haltestelle. Geister“  ■ Von Petra Schellen

Erlösung wie im Märchen: Ist es das, was Helmut Kraussers Stück Haltestelle. Geister verspricht? Und hat Jan Bosse, Schauspielhaus-Regisseur für die kommenden beiden Spielzeiten, die Hoffnung, bei der Inszenierung Antworten auf elementare Fragen zu finden? Und was erwartet er von sich, der 31jährige, der nicht nur den 1998er Regiewettbewerb der Wiener Festwochen gewann, sondern auch durch Inszenierungen von Mayenburg- und Duras-Stücken von sich reden machte, etwa am Schauspiel Frankfurt und an den Münchner Kammerspielen? Fragen, die wir Jan Bosse während der letzten Probenphase zu Haltestelle. Geister stellten.

taz hamburg: Was hat Sie gereizt an Kraussers Stück – einem Auftragswerk, das Sie ja mit ausgesucht haben?

Jan Bosse: Ich schätze Krausser schon lange, vor allem als Erzähler, und auch dieses Stück ist sehr komplex angelegt: 15 Figuren gehen an einer Haltestelle mit ihren Geschichten hausieren, und diese Stories haben, obwohl sie wie Momentaufnahmen aussehen, epische Qualität. Das ist hier überhaupt das Spannende: der Widerspruch zwischen Oberfläche und Tiefgang.

Sind auch die flapsigen drei Tussen episch angelegt?

Ja, auch für sie stellt sich die Frage: Ist da nur Mangel oder gibt es noch mehr? Denn alle Figuren sind Getriebene. Haltestelle. Geister ist also kein Milieustück; außerdem scheinen hinter den Figuren archetypische Strukturen auf: Da ist eine Art ewiges Ehepaar, ein orpheisch Suchender, die Dreierkonstellation der Musen.

Ist Warten das Hauptthema des Stückes?

Dafür müssten diese zerrissenen Figuren erstmal die Fähigkeit haben zu warten. Die Haltestelle ist für mich ein Nicht-Ort, wo sich die treffen, die nicht ins Bett gegangen, die vom Tage übriggeblieben sind. Die Haltestelle ist eine Schleuse, durch die Menschen hindurch müssen, die einander in unterschiedlicher Konstellation begegnen. Dort passiert eine Mischung aus Zufall und Schicksal, die sich nicht auflöst. Die Haltestelle wird so zum magischen Ort.

Zum Ort, an dem man nur bis zum Morgen ausharren müsste, um erlöst zu werden?

Vielleicht. Jedenfalls kreisen die Figuren wie Fliegen um das Licht, sind Unerlöste – und nicht zufällig werden alle, die sterben, gewaltsam aus dem Leben gerissen.

Ist Haltestelle. Geister ein apokalyptisches Stück?

Nein, und überhaupt will ich nicht werten, was da passiert. Aber man kann sich natürlich fragen, was schwerer ist: Vom Beamten des Todes abgeholt zu werden – oder übrigzubleiben.

Ändern die Figuren im Lauf des Stücks ihre Verhaltensmuster?

Es gibt da eine seltsame Form der psychischen und physischen Bedürfnislosigkeit bei den Geis-tern. Eigentlich hat Krausser die Charaktere aber nicht als entwicklungsfähig angelegt, und das ist eine interessante These des Stü-ckes. Stattdessen lebt die erste Hälfte von Haltestelle. Geister von Tauschgeschäften: Pillen gegen Geld, Geschichten gegen Zuwendung...

Gerät der Regisseur angesichts solch fragmentarischer Figuren nicht in Versuchung, deren Geschichten zu Ende zu erzählen?

Man darf sie nicht fertig erzählen, denn dann würde man die Brüchigkeit komplettieren und zukleistern, die im Stück angelegt ist.

Ist Haltestelle. Geister also ein Stück über Sinnsuche?

Es ist eins über das aufflackernde Bewusstsein, dass es unmöglich sein könnte, einen zu finden.

Hat die Arbeit an dem Stück Ihren persönlichen Erkenntnishorizont erweitert, hat sie Ihnen Antworten gegeben?

Ich suche nicht nach Antworten, sondern finde es wichtiger, zur richtigen Zeit die richtigen Fragen zu stellen.

Welches ist Ihre derzeit wichtigste Frage an die Welt?

Fast hätte ich gesagt: „Was ist Tod?“ Aber ich formuliere es anders: „Was ist Realität? Worin liegt der Unterschied – die Schnittstelle – zwischen äußerer und subjektiver Wirklichkeit, zwischen Traum und Realität?“

Interview: Petra Schellen

Premiere: 29. September., 19 Uhr, Schauspielhaus. Nächste Vorstellungen: 30. September., 1. Oktober, jeweils 19 Uhr

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