King Kong hebt sich wie ein Pferd

Die Sensation der Spiele: Russlands Ringer Alexander Karelin verliert erstmals und muss mit Silber in die Duma zurück

aus Sydney MATTI LIESKE

„Ich glaube wirklich, man kann ihn schlagen“, sagte vor Olympia Steve Fraser, Coach des Ringerteams der USA. Außer ihm glaubte das allerdings niemand. Schließlich hatte Alexander Karelin noch nie verloren. Keinen einzigen internationalen Kampf, seit er 1985 als 18-Jähriger die Weltmeisterschaft der Junioren gewann. Nichts als Platz 1 fand seither Eingang in seine Wettkampfbilanz, was u. a. drei olympische Goldmedaillen und neun Weltmeistertitel einschloss. Wie also sollte jemand gegen Alexander den Großen, King Kong oder Alex den Schrecklichen, wie man ihn wahlweise nennt, gewinnen können?

Doch die Zweifler hatten außer Acht gelassen, dass dies die Spiele der gestürzten Denkmäler sind. Erst brachte der ebenfalls als unschlagbar geltende türkische Gewichtheber Naim Süleymanoglu die Hantel nicht über den Kopf, dann ging Wunderschwimmer Alexander Popow im australisch-amerikanischen Wasserwirbel unter, das nicht mehr ganz so traumhafte Team der US-Basketballer beendete ein Match nur mit einstelligem Vorsprung, und jetzt erwischte es Karelin. Rulon Gardner aus den USA zeigte, wie man gegen den übermächtigen Russen gewinnen kann: mit im Wortsinne viel Standhaftigkeit und unglaublichem Glück.

Das Problem für alle, die gegen Karelin antraten, war nicht nur, sich vor seiner unbändigen Kraft in Sicherheit zu bringen, sie mussten ja auch mindestens einen Zähler holen, um eine Siegchance zu haben. Das hatte ebenfalls seit 1988 kein Gegner mehr geschafft. Gardner schon. Ein winziges Pünktlein reichte ihm zum Sieg, und das erhielt er, weil er in einer unübersichtlichen Situation Karelin dazu verleitete, den Klammergriff zu lösen, in dieser Phase ein Regelverstoß, der mit einem Strafpunkt geahndet wird. Diesen Vorsprung brauchte er nur noch über die neun Minuten inklusive Verlängerung retten, die es gab, weil ein Punkt in regulärer Kampfzeit nicht zum Sieg reicht.

Klingt einfach, war es aber nicht, denn Alexander Karelin ist im Ringen das, was im Basketball eine Mischung aus Michael Jordan und Shaquille O’Neal wäre. 1,92 Meter groß, 130 kg schwer, ein Gebirge von Mensch, mit Armen wie Ankerketten, Beinen wie Besanmasten, gleichzeitig aber schnell wie ein Rodeobulle. „Es ist, als ob man ein Pferd zu stemmen versucht“, beschrieb Rulon Gardner nach dem Kampf seine Begegnung mit dem eisernen Sibirier. Schon bei seiner Geburt wog Karelin stolze 14 Pfund, die erstaunten Eltern, beide nicht über 1,70 m, rieben sich die Augen, und die Karriere als Schwergewichtsringer war praktisch vorgezeichnet.

Karelin ist der Einzige in der Klasse über 130 Kilogramm, der in der Lage ist, auch den dicksten Koloss vom Boden aufzuklauben, sich die hilflos zappelnde Beute handlich zurecht zu legen und dann im Rückwärtsfallen auf die Matte zu schmettern. Einige Male hatte er auch Rulon Gardner unter aufgeregtem Gebrüll des Publikums ein Stück vom Boden entfernt, doch der Amerikaner konzentrierte sein gesamtes Lebendgewicht auf raffinierte Weise in seinem Körperschwerpunkt, sodass die letzten Zentimeter zum entscheidenden Griff fehlten. Fünf Sekunden vor Ende ließ Karelin resigniert die Arme sinken, prustete einmal tief durch und fügte sich ins Undenkbare. „Karelin ist müde geworden. Das war der Schlüssel“, freute sich Coach Steve Fraser.

Vielleicht hat den Russen ja doch der Einstieg in die Politik geschwächt, wie es sich die Konkurrenten insgeheim erhofft hatten. Der im Sport so furchterregende Karelin ist privat ein ausgemachter Schöngeist, hört begeistert Bach und Mussorgski, liebt die Poesie, ist ein treu sorgender Familienvater und sagt: „Außerhalb der Matte bin ich ein wesentlich angenehmerer Mensch als darauf.“ Er gibt sich heimatverbunden, lehnte ein Filmangebot aus Amerika mit der Begründung ab, er sei „ein griechisch-römischer Ringer, kein Hollywoodstar“, und auch ein Angebot des Football-Klubs Dallas Cowboys ließ ihn kalt.

In Russland ist Karelin der populärste Sportler überhaupt, und seit dem letzten Jahr sitzt er in Moskau in der Duma. Er kandidierte in seiner Heimatstadt Nowosibirsk für die Einheitspartei von Präsident Wladimir Putin. Natürlich gewann er auch hier, obwohl Werbung um Sympathien dem Ringer, der sich nur an Festtagen zu einem Lächeln herbeilässt, ein Gräuel ist. „Ich kam mir vor wie ein Clown“, kommentierte er den Wahlkampf, in dem seine Berater sogar verlangten, er solle sich die Haare wachsen lassen. „Die Leute wissen, wie ich aussehe“, wehrte er das Ansinnen ebenso grob wie wahrheitsgemäß ab, schließlich dräut sein Konterfei von unzähligen Fruchtsaftverpackungen. „Die Leute wollen, dass du ihre Fragen beantwortest, Dinge erklärst, lachst, tanzt und singst“, beschreibt er geringschätzig das Dasein als Politiker. Dann doch lieber ein Leben auf der Matte, auch wenn er dort am gestrigen Tage ein ganz seltsames Gefühl kennen lernen musste. Eines, das bislang ausschließlich für seine Gegner reserviert war.