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Märchenhafte Wiesnwesen

Am Familientag kommt der größte Rummel der Welt nur ganz gemächlich in Schwung. Das Münchner Oktoberfest ist genau so, wie man glaubt, dass es ist. Eine Exkursion

Im Bistro des ICE „Brüder Grimm“ kosten 0,33 l Radeberger 5,50 Mark. Eine Gruppe Polizisten schockiert das nicht. „Wir fahrn aufs Oktoberfest!“, meldet der Rädelsführer der Kellnerin und ordert die nächste Fuhre. Er und seine Kumpel tragen komplettes Ornat. Uniformiert nach München, in die Hauptstadt der Bierwogen, an die Gestade des „Gerstensaftes“ (Conrad „Ich“ Seidl) – das passt.

„Alarm im Affenstall“ betitelt die Süddeutsche Zeitung folgenden Tags eine Reportage über die Arbeit der Ordnungshüter zwischen Wirtsbudenstraße und Festzelten, Fahrgerätschaften und Toilettenbaracken. Herrn Sailers Gesicht verrät Ekel und Entsetzen, als wir an der U-Bahnstation Theresienwiese dem rollenden Affenkäfig entsteigen. Heute sei Familientag, wir könnten von Glück reden, sonst reiherten sie uns schon um elf Uhr morgens die Schuhe voll. Der gewaltige Asphaltplatz, wie Gummizellen frisch abgespritzt, zeigt noch wenige Spuren der Verwüstung. Der größte Rummel einer aus den Fugen geratenen Welt kommt gemächlich in Schwung.

Krachledernde Originale befingern Brathendl

Wir flanschen uns vors Augustinerzelt, die Altweibersommersonne sengt. Instinktiv beschließt Herr Rudolf, Schnelltrunkenheit anzupeilen. Labelboss Strunz, gleich Guide Sailer alteingesessener Münchner, schwänzt den Termin. Ihn stören „die vielen Zombies“.

Bier, versuche ich die Exkursion zu verteidigen, ist das beste Mittel gegen trockenen Hals und kostet bloß 12 Mark plus. Der Schaum knistert leis’ und strahlt hell. „Schau“, zerfetzt Herr Sailer die zerbrechliche Stimmung, „Schankbetrug! Höchstens 0,7 l! Eine Maß? Dass ich nicht lache!“ Eine dralle Dirndldame gibt ihm Recht, faucht: „Die soll’n ihre Halbe selber trinken!“ – und rumpelt hinfort.

Luft und Platz verheißt das nicht. Um halb zwölf beginnt die Stopfung der Bierbänke. Hunderte Haxn dampfen, der Hopfenduft hat keine Chance mehr. Krachlederne Originale befisseln Hendl, schmatzen und quasseln simultan. Das gigantische Sit-out bereitet Abertausenden Knallköpfen eine Laune, die man prächtig nennt.

Uns zieht’s weg, zur Ochsenbraterei („Von 12 bis 15 Uhr zünftige Blasmusik – ohne Verstärker“), wo wir Gerhard Polts Wiesn-Adi zu entdecken fürchten, doch die Gesittung scheinbar die Grenzen der Scham toleriert. Der Sicherheitsdienst unterbindet eine exakte Betrachtung des Ochsen, und das Volk verharrt teils vor der Balustrade, einen Blick ins Zirkusrund zu werfen. Dort residieren mehr und mehr gebuchte Promi-Esel an reservierten Tischen, weshalb Münchens OB Ude den „großen Wiesn-Streit“ (AZ) entfachte. „Die Wiesn ist so populär auf der ganzen Welt, weil sie genau so ist, wie sie ist“, tautologisierte der Anwalt der simplen Krugstemmer, die ihm überwiegend beipflichten: „Mir ham a an Durst und sauf’n mehr als die Promis.“ (Mann aus Lenggries, laut Bild) Ich grummele, die Idee des Bieres an sich sei okay, und die Kollegen animieren mich zur Flucht in den jetzt lauschigen Kastanienkeller der Augustinerbräu.

Gebuchte Promi-Esel residieren im Zirkusrund

Am Ausgang verweilen die einzigen fünf vernünftigen Wesen der Wiesn, antifaschistische Demonstranten, die des Bombenattentats gedenken, das sich zum zwanzigsten Mal jährt. Eine diffuse Depression ergreift einen, auch ohne abendliche Tumulte, Massenekstase, auch ohne das täglich vom Bayerischen Staatsfernsehen dokumentierte Defilee der Medienkretins um die obszönen Trottel „Mosi“ Moshammer, DJ Ötzi und Co.

„Wiesn-Grattler, die hamma gern“, droht der BR. Kerniger war Deutschland selten. „Der Invalid spielt euch ein Lied“, informiert der Leierkasten, während ich sinniere, ob ich „Arnold Schwarzenegger’s Lieblingsschnitzel aus Graz“ des „schickerisierten“ (tz) Hippodroms oder lieber eine „Leber vom Grill 12,50“ im Funks’tad’l neben dem BR-Gebäude verdrücke.

Märchenhaft, das alles. Unglaublich. Shocking, dieses Angebot. Zum Spei’n. JÜRGEN ROTH

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