: Die Mühsal des Mosaikstein-Suchens
■ Bunte Lichter, linkische Dichter und ein paar versteckte Visionen, die die halbtoten Geister sich selbst nicht glauben: Vier Premieren zur Eröffnung der ersten Spielzeit unter Tom Stromberg am Deutschen Schauspielhaus
Nix hat mit irgendwas hat mit allem was zu tun: Sarah Kanes „Gier“ mit Hügeln
Paris Texas war in den 70er Jahren ein grandioser Wim-Wenders-Film. Mit seiner zelebrierten Langsamkeit, den weiten Landschaftspanoramen mit minutenlangen Einstellungen und den verzerrten Gitarrenriffs von Ry Cooder schuf er eine eigenwillige Ästhetik der Coolness. Eigentümlich erinnert an diesen Film fühlte sich der Premierenbesucher bei der Produktion Gier (Crave) von Sarah Kane in der Regie der neuen Hausregisseurin Ute Rauwald im Malersaal des Schauspielhauses. Doch hier schlagen alle diese Kunstgriffe leider reichlich fehl.
Dabei fordert der dank nackter Betonwände immer noch unansehnliche Malersaal zum Experiment geradezu heraus. Bühnenbildnerin Katrin Nottrodt fiel allerdings nichts Besseres ein, als die Wände schlicht mit weißen Vorhängen zu verhüllen und so eine bessere Turnhallenatmosphäre zu erschaffen. Darin wälzen sich die Schauspieler in einer borstigen Hügellandschaft, die ein wenig an die Lüneburger Heide erinnert. In der Mitte ein nachgestelltes Eisenbahnabteil. Auf den ersten Blick denkt man da, huch, an eine Schulaufführung in Radevormwald! Und dieser Eindruck bestätigt sich leider, als es an das Spiel geht.
Es gibt keine realen Figuren, sondern vier Stimmen, die schlicht M, B, C und A heißen und sich hier in einem Abteil treffen und gemeinsam eine Reise antreten. Jede verkörpert verschiedene Rollen, C (Caroline Peters) ist auf der Suche nach Liebe und Begegnung: „Ich bin böse. ich bin beschädigt und niemand kann mich retten.“ M (Edith Adam) wünscht sich verzweifelt ein Kind und kann doch Nähe nicht aushalten. B (Marek Harloff) sucht auch nach Liebe und nimmt sie sich schließlich. A (Jörg Ratjen) schändet Kinder, um Nähe zu spüren: „Nur Liebe kann mich retten, und Liebe hat mich zerstört.“ Es ist ein ständiges Sich-Annähern und wieder Abstoßen. Wenn die Figuren das Abteil verlassen, dann, um sich bis zur Schmerzgrenze zu küssen, hemmungslos zu ficken, gellend zu schreien oder einfach auf einen Berg zu steigen und sich fallenzulassen. Dass sie sich dabei ständig häuten und weiterentwickeln macht es noch schwieriger, einen Zusammenhang in dem fragmentierten Textmaterial zu sehen, und da wäre die Regie gefordert. Gewiss, Rauwald lässt ihren Schauspielern gerne viel Raum für spontane Improvisation. In der Vergangenheit gelangen ihr mit dieser Methode wunderbare Klassikerbearbeitungen.
Doch hier hat sie ein zeitgenössisches Werk vor sich, und wenn sich da die Regie nahezu komplett heraushält, können auch noch so spontane Schauspieler nichts mehr retten. Redlich müht sich da Jungtalent Marek Harloff, simuliert mit viel Körpereinsatz einen Rockstar, wirft sich in die unappetitliche Bors-tenlandschaft oder erklimmt behende eine Gepäckablage. Caroline Peters zeigt, dass sie sekundenlang schreien kann und auch sonst alle Stimmübungen beherrscht. Die beiden anderen bleiben seltsam blass, wanken substanz- und kraftlos durch die Szenerie.
Diese Figuren erleben nichts miteinander und erzählen auch keine Geschichten, die irgendwen berühren, obwohl das Stück das durchaus hergäbe. Von einer Gier nach Leben ist erst recht nichts zu spüren. Und so fällt das Ganze mit brachialer Kraft auseinander. Lange Übergänge und Pausen werden da zur gesteigerten Qual. Nur das verzerrte Gitarrenspiel von Hardy Kayser und das Schlagzeug von Martin Engelbach sorgen für Auflockerung und schaffen ein wenig Korsage. „Was hat irgendetwas mit irgendetwas zu tun?“ fragt C. „Nichts,“ sagt M. So könnte auch die Frage des Abends lauten.
Annette Stiekele
Nächste Vorstellungen: 2., 9.,, 12., 13., 24., 25., 30. 10. jeweils 20 Uhr; 14.10. 19 Uhr, Schauspielhaus, Malersaal
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