: Gegen den pestilenzialistischen Musikmüll
■ Zum Abschluss des Musikfestes boten die English Baroque Soloists unter John Eliot Gardiner zwei herausragende Bach-Abende in der Kirche Unser Lieben Frauen
Die gelinde Befürchtung, ich könne nach dem vielen Hören beim Musikfest bei der Wiedergabe von acht Kantaten von Johann Sebastian Bach ein wenig einnicken, erwies sich als unbegründet. Und unbegründet erwies sich auch die im Vorfeld nicht ganz unberechtigte Frage, was denn das Ganze soll: 198 Bach-Kantaten einzustudieren und über ein Jahr lang in der ganzen Welt zu spielen. Denn in den beiden Konzerten in der Kirche Unser lieben Frauen, dem absolut krönenden Abschluss des Musikfestes, machte der Einfallsreichtum, mit dem Bach die äußere Form seiner Kantaten – Rezitativ-Arie-Choral – umsetzt, hellwach.
Die English Baroque Soloists und der Monteverdi Choir unter der Leitung von John Eliot Gardiner reihten während ihrer „Bach Cantata Pilgrimage“ eine interpretatorische Schönheit an die andere, und man muss sich wirklich fragen, wie der große englische Dirigent die Energie für ein solches Mammutunternehmen aufbringt. Er wolle, so hatte er in einem Interview gesagt, etwas gegen den „pestilenzialistischen Musikmüll“ setzen. Das ist ihm mehr als gelungen.
„Wohl kaum ist jemals in der Musikgeschichte ein derart umfassender Versuch der Textausdeutung unternommen worden“, so der Musikwissenschaftler Alfred Dürr in bezug auf die Kantaten, die der Komponist ab 1723 in Leipzig fünf Jahre lang Sonntag für Sonntag schrieb. So markierte die von Marten Root anrührend geblasene Traversflötenstimme in der Tenor-Arie „Erschüttere dich nur nicht, verzagte Seele“ mit ihrer Chromatik tonmalerisch diese Erschütterung, so wird die Sopranstimme in „Jauchzet Gott in allen Landen“ zu einem wahren Jubelsturm , so wird der Chorsatz „Es erhub sich ein Streit“ mit allen Mitteln von fugierten Einsätzen und Koloraturen zu einem fast bildlich erlebbaren Streit. Die Sopranistin Malin Hartelius sang die wohl schwerste Gesangspartie Bach glockenrein und mit überwältigendem Feuer.
Dieses sängerische Niveau ist auch dem Tenor James Gilchrist zu bescheinigen, der mit den charismatischen Melismen der Arie „Bleibt Ihr Engel, bleibt bei mir“ eine geradezu existentielle Erfahrung vermitteln konnte. Der Bassist Peter Harvey, der Countertenor William Towers brachten vergleichbare vokale Wunder. Ganz im Sinne Bachs ließ Gardiner aus einem klein besetzten Chor – sechzehn SängerInnen – die SolistInnen aus dem Chor heraustreten. Dieser nicht nur bachische, sondern auch typisch englische Ensemblegeist schafft stilistisch eine wunderbare Geschlossenheit, die sich auch in der Wiedergabe des Konzertes für zwei Violinen und Orchester in d-Moll niederschlug: Die Konzertmeisterin Maya Homburger und der Anführer der zweiten Geigen, Adrian Butterfield, spielten sich form- und klangschöne „Bälle“ zu und bestachen besonders durch die Klangschönheit des zweiten Satzes, eine der herrlichsten, ineinander verzahnten Melodien Bachs. Auch die Farbigkeit und Präzision der Begleitung war an diesen beiden Abenden mustergültig.
Bleibt der Chor selbst zu nennen. Selbstredend ist heute kein Gründungsmitglied mehr dabei, aber seit 1964 wird er gehalten von Geist und Tat Gardiners, von dem man nach diesem Abend (wieder einmal) sagen muss: einer der großen Bach-Exegeten, der alles in den Schatten stellt, was land-landab in den Kantoreien so produziert wird. Dabei ist damit nicht nur die technische Überlegenheit gemeint, die einen solchen Vergleich gar nicht zulassen würde, sondern der Ansatz und die Einstellung. Und die speist sich strengstens aus Sprache, Rhetorik in den Instrumentalstimmen (großartig die Brillanz der Bläser und die Atmosphäre in den Streichern) und der Genauigkeit der Affekte. Zu Recht stehende Ovationen. Ute Schalz-Laurenze
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen