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Helden wie dieser

Er führte den Kampf um Belgrads Parlament. Nun lässt sich Velimir Ilić, Čačaks Bürgermeister, als Chefrevolutionär feiernaus Čačak THOMAS SCHMID

Schritt für Schritt nähert sich der bullige Mann im Trainingsanzug ganz allein der Kette gut ausgerüsteter Polizisten, die Arme leicht angewinkelt, den Kopf zwischen die Schultern geklemmt, als ob er gleich wie ein Stier die uniformierte Reihe rammen wollte. Doch dann sagt er nur: „Würden Sie bitte die Barrikade aus dem Weg räumen.“ Keine Reaktion. „Räumen Sie die Barrikade weg“, wiederholt der Mann, „sonst machen wir es.“

Sie machen es. Ein Dutzend kräftiger Männer stoßen die beiden Lastwagen, die die Straße versperrt haben, in den Graben. Die Polizei schaut zu, die Karawane zieht weiter. Immer Richtung Belgrad. Zehntausend Menschen aus Čačak, in Autos, in Bussen, in Lastwagen, und mit ihnen ein großer gelber Sattelschlepper, der einen Bagger befördert. Wenn der kilometerlange Autokorso hupend durch Dörfer fährt, applaudieren die Menschen am Straßenrand. Schließlich der triumphale Einzug in Belgrad.

Sie sind die Ersten, die zur Großdemonstration gegen den Wahlbetrug vor dem Gebäude des jugoslawischen Parlaments eintreffen. „Wir sind die Leute aus Čačak! Wir sind die Stärksten!“, schreien sie. Immer mehr Menschen drängen die Stufen empor. Aus dem Innern des Gebäudes kommen Polizisten. Dann tritt wieder der bullige Mann auf, stellt sich in die vorderste Reihe und ruft: „Wir kehren nicht zurück, wenn wir nicht gewinnen!“ Tohuwabohu bricht aus. Tränengas vernebelt das Bild.

Dragan Glisović drückt auf den Knopf. Vorführung beendet. Der Direktor von „TV Čačak“ verstaut den Videofilm über die Revolution in Belgrad.

Der bullige Mann auf dem Video heißt Velimir Ilić, „Veljo“ genannt. Es ist der Bürgermeister von Čačak. Ein unerschrockener, mutiger Mann. Hat nie ein Blatt vor den Mund genommen. Verachtete Milošević und zeigte es auch. Rief seine Bürger schon lange zum Widerstand auf, kritisierte während der Nato-Intervention die eigene Armee und entzog sich seiner Verhaftung durch Flucht. 43 Tage lang blieb er abgetaucht – oder war „in den Wäldern“, wie er es selber etwas pathetisch ausdrückt.

Nun sitzt er in seinem Büro vor der serbischen Fahne. An der Wand hängt ein Bild des heiligen Sava, und auf dem Tisch steht ein Foto von Draza Mihailović, dem Führer der königstreuen Tschetniks im Zweiten Weltkrieg, der von Tito wegen Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht hingerichtet wurde. Čačak, eine Stadt 150 Kilometer südlich von Belgrad, mitten in der Sumadija, dem Herzen Serbiens, war eine Hochburg der Tschetniks. Nach dem Krieg hat sich Tito hier nur zweimal blicken lassen. Milošević kam sogar nur einmal, 1992, er erntete Eier und Steine. Bei den Kommunalwahlen vor gut drei Wochen hat die Opposition hier 67 der 70 Sitze erobert, die restlichen drei fielen an Unabhängige, die Parteien des Regimes gingen leer aus.

Velimir Ilić trägt wieder Trainingshose und hustet. Er fühle sich noch immer sauschlecht, entschuldigt sich der Held vom jenem Donnerstag in Belgrad, „sie haben eine Gaspatrone gezündet und sie mir in die Jacke gesteckt“. Und wieder prustet er los, als wolle er die Lunge aus dem Leib kotzen. „Es war kein Tränengas, es war Kampfgas“, behauptet er schließlich. Er sieht abgekämpft aus. Es ist schließlich alles erst zehn Tage her, und er hat seither kaum geschlafen. Die Sitzung des Gemeinderats, einen Tag vor jenem Donnerstag, hatte er mit den Worten beschlossen: „Sieg oder Tod.“

Was sich in Belgrad abspielte, war kein spontaner Volksaufstand. Die Erstürmung des Parlaments, die schließlich in einen Machtwechsel mündete, war nicht der Euphorie des Moments geschuldet. „Es gab einen Plan“, sagt Ilić, „und den kannten in allen Details nur fünf Leute: zwei Polizisten aus Čačak, zwei Polizisten einer Eliteeinheit in Belgrad und ich.“ Etwa weitere hundert Personen hätten gewusst, dass es einen Plan gibt, und ihre Rolle gekannt. Zum Sturm auf das Parlament habe er eine Gruppe von Profis rekrutiert: sechs Fallschirmspringer, einige Angehörige einer Eliteeinheit der Polizei des Innenministeriums, Karate- und Judokämpfer – insgesamt etwa zwanzig Personen. Die Speerspitze der Revolution.

Seit einem Jahr etwa hätten sie ausgelotet, ob und wie man das Regime stürzen könne. „Seit vier Monaten haben wir vertrauenswürdige Leute in der Polizei und bei der Armee kontaktiert.“ Kärrnerarbeit weitab der öffentlichen Wahrnehmung. Aber sie hat Früchte getragen: „Hohe Polizeioffiziere stellten uns am Donnerstag Walkie-Talkies zur Verfügung, damit wir den Polizeifunk mithören konnten. Ja, sie nannten uns sogar den günstigsten Zeitpunkt, an dem wir einen Teil der vielhunderttausendköpfigen Demonstration zum Gebäude des Staatsfernsehens lenken sollten.“ Sie hätten alle Befehle des Innenministeriums gekannt, gewusst, ob die Polizei Schießbefehl erhalten hatte oder nicht, behauptet Bürgermeister Ilić.

Schon Tage vor dem großen Ereignis postierte sich die Staatssicherheit vor seinem Haus und durchsuchte die Autos seiner Besucher. Zuletzt verbrachte er, der hoch gefährdete Mann, jede Nacht woanders. „Die Zeit drängte, wir mussten handeln“, sagt Ilić. „Wir waren bereit, für die Sache zu sterben. Aber wir verlangen deswegen keine Ministerposten. Unsere Botschaft an die neue Regierung lautet: Macht eure Arbeit gut, sonst ziehen wir Leute aus Čačak morgen gegen euch nach Belgrad.“

In Miokovci, einem kleinen Dörfchen zehn Kilometer außerhalb von Čačak, wird die Machtübernahme gefeiert. Das Festzelt steht, Spanferkel wird serviert, der Slibowitz, der serbische Pflaumenschnaps, fließt reichlich – pur oder als Punsch mit heißem Wasser und Zucker.

Draußen auf dem Vorplatz tanzen Alt und Jung einen Kolo, den traditionellen Reigentanz. Ein Bauer mit Militärmütze schwenkt eine riesige Nationalfahne. Leute liegen sich in den Armen. „Schiveli“ – „Prost auf den Sieg“. Radojica Sretenović, Vorsitzender der „Neuen Demokratie“, einer der vielen oppositionellen Parteien, hat sich in den Sonntagsanzug geworfen. „Wenn die Nato nicht angegriffen hätte“, behauptet er, „wäre Milošević schon im Mai des vergangenen Jahres erledigt gewesen.“ Objektiv habe der Westen dem Diktator geholfen, die Opposition gesellschaftlich zu isolieren. Mag sein. Aber was hat diese serbische Opposition denn gemacht, als acht Monate vor dem Nato-Angriff 300.000 ihrer albanischen Mitbürger aus ihren Dörfern vertrieben wurden? Nichts. Ein schwieriges Problem, meint Sretenović, das sich nun, wo die Demokratie einkehrt, schon werde lösen lassen. Übers Kosovo reden die Leute hier nicht gerne. Außerdem wird heute gefeiert.

Ljubodrag Grbić, der dem Slibowitz nur mäßig zuspricht, hat noch einen klaren Kopf. Veljo sei ein mutiger Mann, ein ganzer Kerl, sagt er. Der Bürgermeister habe die Aufgabe übernommen, den Sturm aufs Parlament im fernen Belgrad zu organisieren. Und er habe die Aktion sorgfältig vorbereitet und umsichtig durchgeführt. Alle Achtung! Aber die Sache sei ihm nun in den Kopf gestiegen, fürchtet Grbić, der ebenfalls der „Neuen Demokratie“ angehört. In Wirklichkeit habe ein fünfköpfiges Gremium des Oppositionsbündnisses DOS die Revolution geplant und Ilić den zentralen Part zugewiesen. „Der will jetzt wohl Präsident Serbiens werden“, vermutet der Lokalpolitiker, „doch wir brauchen keinen neuen Milošević.“

Dragan Kovacević ist Koordinator der DOS in Čačak. „Der Aufstand in Belgrad war nicht spontan“, bestätigt er, „das war alles geplant.“ Am Donnerstagmorgen noch wurde die Relais-Station des staatlichen Fernsehens RTS auf dem Ovcar-Berg bei Čačak von der Opposition übernommen. So konnte der lokale Sender TV Čačak den Marsch der Zehntausend nach Belgrad in über vierzig Prozent des serbischen Territoriums ausstrahlen.

Kovacević selber gehörte zur Gruppe, die kurz nach dem Sturm auf das Parlament das Fernsehgebäude der RTS in der Hauptstadt eroberte. „Wir haben innerhalb einer Stunde ein Dutzend Mal angegriffen, bis die Polizei sich schließlich unter dem Steinhagel ins Gebäude zurückzog.“ Drei Lastwagen voll Steine hatten die Demonstranten aus Čačak mitgebracht. „Fünf Demonstranten haben Schussverletzungen davongetragen, drinnen haben wir dann dreißig Polizisten entwaffnet“, sagt der DOS-Koordinator und zeigt eine Gewehrpatrone. Eine Gruppe von Demonstranten drang in die Redaktion von Politika ein, der auflagenstärksten Zeitung des Regimes, und eine Stunde später kam schon eine Extra-Ausgabe heraus, in der dieselbe Redaktion die Machtübernahme der Opposition begrüßte.

Es gibt viele Wendehälse in diesen Zeiten. Viele haben mitgemacht oder geschwiegen, nun wird sich den neuen Verhältnissen angepasst. Helden sind überall dünn gesät. Zu ihnen zählen die Jugendlichen von „Otpor“ (Widerstand).

Im Zentrum von Čačak findet man die Fäuste, das Symbol der „Otpor“, mannshoch an die Häuser gepinselt. Die Widerständler wurden in den vergangenen Monaten zu tausenden verhört. Sie wurden in derselben Presse, die nun die Opposition bejubelt, noch vor wenigen Tagen als faschistische Terroristen beschimpft. Zu einer Zeit, in der ganz Serbien gelähmt schien und die oppositionellen Parteien zerstritten waren, zeigten sie, dass Widerstand möglich ist.

„Natürlich gehörte etwas Mut dazu“, sagt Djordje Talović, der mit seinen vier Ringen an der linken Hand und den zwei gepiercten Ohrläppchen in einer Kleinstadt wie Čačak sofort auffällt. Wer getraute sich schon, wie er am helllichten Tag die Wahlplakate Milošević’ mit Fäusten zu überkleben, eins nach dem andern. Als der Student der Elektrotechnik wieder einmal von der Polizei gesucht war, ließ er sich von einem Freund zum Marktplatz fahren und hielt dort eine Rede, bis ihn Polizisten unter dem Protest der Passanten abführten. „Das serbische Volk mag eben Rebellen“, meint Talović. Natürlich ist auch er im Tross nach Belgrad gefahren. Ob er vor dem Parlament Angst gehabt habe? „Ja, schon“, sagt er, „wir rechneten mit Schießereien, aber noch mehr Angst hatte ich, es könnte wieder eine von diesen Großdemonstrationen werden, bei denen am Schluss doch nichts passiert.“

Draußen auf dem Platz vor dem Café dreht derweil der gelbe Sattelschlepper mit dem gelben Bulldozer auf der Ladefläche wieder seine Runden. An der Antenne hängt eine große serbische Fahne. Im ganzen Land kennt man das Fahrzeug, mit dem die Leute von Čačak nach Belgrad gefahren sind und das vor dem Parlament gestanden hat, das Symbol der serbischen Revolution.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Schweizer „Weltwoche“

Zitat:BÜRGERMEISTER VELIMIR ILIĆ

„Wir verlangen keine Ministerposten. Unsere Botschaft an die neue Regierung lautet: Macht eure Arbeit gut, sonst ziehen wir Leute aus Čačak morgen gegen euch nach Belgrad.“

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