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Vom sturen Beharren zum kreativen Streit

Konflikt zwischen Kleinen und Großen in der EU: Wie viele Kommissare soll es geben? Wie werden die Stimmen im Ministerrat gewichtet?

BRÜSSEL taz ■ Am Freitagabend scheint zum ersten Mal Tacheles geredet worden zu sein. Teilnehmer berichteten nach dem Arbeitsessen der Staats- und Regierungschefs, Chirac habe den kleinen Ländern gedroht: Wenn sie die nun auf dem Tisch liegenden Kompromisse nicht mittragen wollten, würden sie allein für das Scheitern der EU-Reform verantwortlich gemacht.

Der finnische Regierungschef Paavo Lipponen soll darauf geantwortet haben, er lasse sich nicht herumschubsen. Das mag ein Kommunikationsfehler sein. Die kleinen Sprachen werden bei informellen Gipfeltreffen nicht übersetzt. Dass die kleinen Länder aber zunehmend das Gefühl haben, sie könnten gegen die Allianz der fünf Großen – Spanien, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien – nichts ausrichten, ist schon länger spürbar. Auch deshalb reagierten einge kleine Länder so allergisch gegen die Maßregelung des kleinen Österreich. Und deshalb ist das dänische Nein zum Euro ein deutliches Warnsignal für die bevorstehende EU-Reform.

Wenn sich die Kleinen querlegen, wird Frankreich in Nizza keinen Erfolg vorweisen können. Dabei haben die fünf Großen in Biarritz wirklich Entgegenkommen gezeigt: Die Kommission hat derzeit zwanzig Mitglieder. Sie soll nicht vergrößert werden, wenn neue Mitgliedsländer aufgenommen werden. Das bedeutet, dass für die nächsten fünf Neuen jeweils ein Kommissar der großen Länder wegfällt. Beim sechsten Neumitglied muss dann ein kleines Land zeitweise ganz auf einen eigenen Kommissar in Brüssel verzichten. Denn dann beginnt das Rotationssystem, bei dem reihum jeder mal ohne Sitz und Stimme in Brüssel ist.

Die Großen haben ihr Entgegenkommen an eine Bedingung geknüpft. Sie wollen mehr Stimmengewicht im Ministerrat. Derzeit haben Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien je zehn, Spanien acht Stimmen im Rat. Dänemark, Finnland und Irland können mit drei Stimmen, das kleine Luxemburg mit zwei Stimmen die EU-Politik mitbestimmen. Da Deutschland 82 Millionen Einwohner hat, Luxemburg aber nur knapp 400.000, stehen hinter einer Luxemburger Stimme 200.000 Menschen, in Deutschland müssen sich 8 Millionen eine Stimme teilen. Dieses Ungleichgewicht halten die großen Länder für undemokratisch.

Da in Zukunft, wenn die Reform zustande kommt, weitaus mehr Entscheidungen als bisher im Rat mehrheitlich getroffen werden können, gewinnt der Streit um die Stimmengewichtung an Bedeutung. Bislang kann Luxemburg mit seinen zwei Stimmen zum Beispiel die Zinsertragssteuer verhindern, weil sie einstimmig beschlossen werden muss. Sollte in Zukunft in Steuerfragen die qualifizierte Mehrheit genügen und gleichzeitig mehr Stimmengewicht auf die großen Länder entfallen, hätten die Kleinen keine Chance mehr, Steuerbeschlüsse in Brüssel zu verhindern.

Dass dieser Konflikt jetzt offen auf dem Tisch liegt, könnte bedeuten, dass die Länder aus der bisherigen Phase sturen Beharrens in die Phase kreativen Streitens übergewechselt sind. Ob Biarritz wirklich einen Schritt nach vorn bedeutet, kann aber niemand sagen, der bei den wöchentlichen Verhandlungsrunden der Fachleute nicht dabei ist. Denn dort werden die Details ausgearbeitet, in denen gerade bei Fragen der qualifizierten Mehrheit der Teufel steckt.

Wenn Streit Bewegung bedeutet, hatte die EU-Grundrechtecharta in Biarritz keine Sternstunde. Sie wurde abgenickt und – verbunden mit Glückwünschen an Expräsident Herzog – durchgewunken. Hätten die Gipfelteilnehmer die Frage auf ihrer Agenda, ob und wann die Charta rechtsverbindlicher Teil der EU-Verträge werden soll, wäre es weniger friedlich zugegangen. Denn vielen Südländern sind die garantierten sozialen Rechte zu umfangreich, den Nordländern gehen sie nicht weit genug, und Großbritannien ist überhaupt allergisch gegen das ganze Projekt EU-Verfassung. DANIELA WEINGÄRTNER

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