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Stalin-Karikatur im Philadelphia-Sound

■ Das Philharmonische Staatsorchester eröffnete die Saison mit einem „Russentag“. Nach und nach ließen die teils beängstigend guten MusikerInnen jeden Vorbehalt unter lauter Klangschönheit zerbröseln

Russentag bei der Philharmonischen Gesellschaft. Deren 1. Abonnementskonzert in dieser Saison präsentierte Rachmaninows 1. Klavierkonzert und die 10. Sinfonie von Dmitrij Schostakowitsch. Da kommt Freude auf, denn kaum eine der großen Musiknationen dokumentiert so offen die Funktionalisierung von Musik durch die jeweils herrschenden Eliten und die teils schüchtern, teils keck, listig oder offen unternommenen Versuche von Musikern, sich dem zu entziehen. Musik mit immer neu zu entschlüsselndem Subtext, das macht den Reiz aus.

Ein Programm mit Rachmaninow und Schostakowitsch mag auf den ersten Blick eine eigenartige Kombination sein. Beide standen in ihren gemeinsamen Lebensabschnitten auf der jeweils anderen Seite der Barrikade: Ersterer als Spezialist für spätromantisch virtuos-kulinarische Zubereitung von raffinierter Kost für gesättigte Feinschmecker, den die Revolution ins Exil trieb, Letzterer als musikalische Stimme des revolutionären – später des verratenen Proletariats.

1892 hat sich der noch minderjährige Rachmaninow wenig um das Konzertpublikum des Zarenreiches geschert. Sein Klavierkonzert verlässt zwar den Kreis slawisch gefärbter Spätromantik nicht, es enthält aber ein Maß an spätpubertärer Unbekümmertheit und Experimentierfreude, die es als Dokument wertvoll machen. Natürlich lässt er es tschaikowskiartig schmettern, suhlt sich in den Emotionen der russischen Seele, verweigert aber die mitpfeifbare Melodik. Immerhin, ein Bubenstreich, dem damaligen Zuhörerkreis befremdlich modern vorkommend.

Schostokowitschs 10. Sinfonie hat da ein anderes Gewicht. Ohne programmatisch eindeutig festgelegt zu sein, erscheint sie doch als sinfonische Bestandsaufnahme der Befindlichkeit der sowjetischen Gesellschaft im Jahre des Abtritts Josef Stalins von der Weltbühne. Sie kündet von Angst und Stillstand, vom terroristischen Einbruch totalitärer Politik in den Alltag. Sie schickt Stalin ins noch frische Grab eine grausam realistische Karikatur hinterher (das Scherzo: ein auskomponierter Tritt in den Hintern des dahingeschiedenen großen Vaters und Lehrers der Massen) und schließt mit der nicht ungefährdeten Utopie, dass der Komponist sich dereinst in Freiheit wird einreihen können in den fröhlichen Marsch der befreiten Brüder zur Sonne.

Dies Programm verlangt einen Spagat, da beide Werke sich an ein denkbar unterschiedliches Publikum richten. Kann es in einem Konzert gelingen, jedem Werk den eigenen Ton zu geben?

Die schlechte Nachricht zuerst: Es ist dem Generalmusikdirektor Günter Neuhold natürlich nicht gelungen, für jedes Werk die spezifische Klangwelt zu schaffen. Von Subtext war auch wenig zu spüren. Rachmaninow und Schostakowitsch blühten beide gleichermaßen auf, in spätromantischer Klangpracht vereint.

Die gute Nachricht: Es hat glänzend funktioniert. Rachmaninows Aus- und gefühlvollen Einbrüche erklangen machtvoll und warm-melancholisch. Orchestrale Binnenstrukturen blieben dem Drang nach stimmigem, homogenem Gesamtklang untergeordnet. Und dieser schmeichelte sich ins zunehmend faszinierte Ohr des Berichterstatters: Philadelphia-Sound ist auch in Bremen und auch ohne Philadelphia Orchestra möglich.

Über dem wohligen Klangteppich des Orchesters schwebte silbrig und klar konturiert das vom Pianisten Bernd Glemser gewebte Gespinst des virtuosen Klaviersatzes. Beherzt, aber nicht gewalttätig, zart, doch ohne falsche Seufzer griff er in die Tastatur – ein wirkungs- und reizvoller Kontrast zum opulenten orchestralen Klangbrei, der dessen Verdauung doch erheblich erleichterte. Mit zwei luftig prickelnden Zugaben stimmte uns dieser sensible Tastenlöwe wirkungsvoll auf den Pausensekt ein.

Um so unvermittelter sah sich das Publikum nach der Pause den herben, schwarz-grauen Eingangstakten der Schostakowitsch-Sinfonie ausgesetzt. Doch Neuhold nutzte jede sich bietende Gelegenheit der Partitur aus, um die kalte, von Angst und Schrecken und Resignation geprägte Atmosphäre des 1. Satzes in packende hochdramatische Action zu wandeln. Die bitterböse Stalinkarikatur verlor zwar ihre schneidende Schärfe, spannend und hoch virtuos dargeboten wurde sie gleichwohl.

Schostakowitschs auf ein normales Leben gerichteter Optimismus, mit dem die Sinfonie abschließt, erklang mir ein bisschen zu rund, zu geglückt. Doch auch dies im Philadelphia-Sound zu hören, so reich, bunt und packend, ließ meine konzeptionellen Vorbehalte zunehmend zerbröseln. Dazu trug vor allem die großartige Leistung des Staatsorchesters Bremen bei. Da gelang fast alles. Der Streicherklang verriet fast wienerische Eleganz und Wärme, die Holzbläser bestachen durch virtuosen Spielwitz, das Blech ertönte majestätisch und farbenreich. Den Hörnern gelang gar das gerühmte übersüße Vibrato osteuropäischer Hornisten und der Schlagapparat funktionierte beängstigend gut.

Das Publikum dankte mit einer fast ebenbürtig geschlossenen Gemeinschaftsleistung: Beifall, fast ohne Ende. Mario Nitsche

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