: Ein Schildbürgerstreich namens Erasmus
Das europäische Stipendienprogramm „Erasmus“ hat seit 1987 die Mobilität der Studierenden in Europa enorm erhöht. Nun aber stößt es an seine Grenzen: Der komplizierte Mechanismus deckelt die Zahl reiselustiger Studis. Die Stipendien sind niedrig – und unterscheiden sich je nach Herkunftsland
von BARBARA SCHÄDER
Laura, Jelka und Jantine haben viel gemeinsam: Alle drei studieren Journalistik, sie haben das Sommersemester in Brüssel verbracht und alle drei erhielten für diesen Aufenthalt ein Erasmus-Stipendium der Europäischen Union. Beim Geld aber hört die Gemeinsamkeit auf: Denn die Schottin Laura streicht doppelt so viel Geld wie ihre niederländischen Kommilitoninnen Jelka und Jantine ein. Laura verdankt ihren „Wohlstand“ von 700 Mark pro Monat der Reisefaulheit ihrer britischen Kommilitonen: Weil wenige von ihnen ins Ausland wollen, bleibt für Laura mehr Geld. Schuld daran ist das absurde Stipendienwesen der Europäischen Union (EU).
Das EU-Stipendiensystem bestraft praktisch Länder mit vielen reiselustigen Studenten. Statt die Mittel gleichmäßig an alle rund 100.000 Erasmus-StudentInnen in Europa zu verteilen, wird mit einem anderen Verteilungsschlüssel gearbeitet. Die Höhe der jeweiligen Mittel orientiert sich an der schieren Größe der Länder und nicht an der Reisefreude ihrer Jugend. Hat ein Land also einen hohen Anteil an der Gesamtzahl der europäischen Studierenden, bekommt es viel Geld. So erhält Großbritannien mehr Erasmus-Mittel als Spanien – obwohl dessen junge Leute viel öfter im Ausland studieren als die Briten.
Im akademischen Jahr 1998/99 verbrachten 14.329 Spanier ein Semester im Ausland. Aber nur 9.887 britische Studenten wagten die Fahrt über den Ärmelkanal. Die Folge: Britische Gaststudenten bekamen durchschnittlich 310 Mark pro Monat, die Spanier müssen sich mit rund 240 Mark zufrieden geben.
Europa konterkariert mit diesem System seine eigenen Ziele: Dass möglichst viele Studenten auf Reisen gehen und sich die Europäer näher kommen. Die Kommission selbst hat dies gerade in einer Untersuchung festgestellt: Einige Länder böten bereits weniger Erasmus-Studien an, damit sie den einzelnen Studenten höhere Stipendien bezahlen könnten. Dazu zählten, so teilte die Regierung des vereinten Europas mit, vor allem Staaten wie Griechenland, die ihre Studenten selbst kaum unterstützen.
Auch das Europäische Parlament hat das Problem erkannt. „Erasmus sollte alle Studenten gleich behandeln, unabhängig von ihrem Heimat- oder Gastland“, forderten die Abgeordneten jüngst in einer Stellungnahme an die Europäische Kommission um ihren Präsidenten Romano Prodi. Doch die spielte den Ball zurück: „Die Zahl der Studenten war das einzige Erasmus-Kriterium, auf das sich die EU-Mitgliedsstaaten einigen konnten“, sagte Thorbjörn Grönner, Referent des Erasmus-Programmes unter Bildungskommissarin Viviane Reding.
Der europäische Schildbürgerstreich namens Erasmus hat Folgen. Von den insgesamt 181.000 Plätzen, die Europas Hochschulen für ausländische Studenten freihalten, kann jedes Jahr nur etwa die Hälfte besetzt werden. Und trotzdem klagten knapp zwei Drittel der befragten Erasmus-Studenten über finanzielle Schwierigkeiten. Kein Wunder bei einem Stipendium, das offiziell „Mobilitätszuschuss“ heißt und zwischen 120 Mark (Schweden) und 800 Mark (Luxemburg) liegt.
„Die vielen offenen Plätze sind Geldverschwendung“, kritisiert Chris Heaton-Harris. Der britische Europaabgeordnete war der Berichterstatter für die Erasmus-Stellungnahme des Parlaments. Seiner Ansicht nach verbraucht die Verwaltung nicht genutzter Stipendien zu viel Geld. Heaton-Harris’ Vorschlag zur Verbesserung: „Ich wäre dafür, die Zahlungen nach den Lebenshaltungskosten im Gastland zu richten.“
Auf Lehr- und Wanderjahre gehen dennoch rund 100.000 StudentInnen in Europa. 1987, als Erasmus startete, waren es nur 3.000. Die jungen Europäer verteilen sich dabei höchst ungleichmäßig auf den Kontinent. Mit Abstand am beliebtesten ist Großbritannien, gefolgt von Irland. Kleine Länder wie Griechenland, Norwegen oder Portugal ziehen nur wenige Studenten an. Aber auch Deutschland und Italien sind wenig attraktiv – offenbar ein Sprachproblem: Wirklich begehrt sind die Hochschulen in englisch- und französischsprachigen Ländern.
Die britischen Hochschulen allerdings stürzt ihre Beliebtheit inzwischen in ein echtes Finanzierungsproblem: Lauras Alma Mater zum Beispiel, die Napier University in Edinburgh, empfängt zwar jedes Jahr 120 Studenten. Aber nur 30 Schotten verlassen die Insel. Napier hat nun drei internationale Partnerschaften gekündigt, weil sie von vielen überzähligen ausländischen Studenten keine Studiengebühren erhält. Auch das liegt an den Erasmus-Regeln. Sie setzen voraus, dass jeder Auslandsstudent eventuell anfallende Studiengebühren weiter zu Hause bezahlt. Jeder Schotte, der wegfährt, bezahlt demnach einem deutschen Gaststudenten den Studienplatz. Da aber kaum Schotten nach Deutschland gehen, gerät das System aus dem Gleichgewicht – und die Napier University in die Miesen.
So sehr das Erasmus-Programm seit Ende der Achtzigerjahre ein Erfolgsprogramm ist, die ehrgeizigen Ideen Europas sind mit seiner Konstruktion und Ausstattung wohl nicht zu verwirklichen. Das Europaparlament forderte die Kommission daher auf, alles zu tun, um mehr Studenten zu einem Auslandsaufenthalt zu motivieren. Das Ziel nämlich, zehn Prozent aller Studierenden in Europa für ein Semester ins Ausland zu schicken, wurde weit verfehlt: Bislang bricht nur ein Prozent des akademischen Nachwuchses zu den europäischen Nachbarn auf.
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