: Besuch bei Goethes Rächer
Eine schwarze Gestalt zieht durch die Nacht und rettet Bücher vor der Vernichtung
Es ist Februar, kalt, zwei Uhr des Nachts in der großen süddeutschen Kreisstadt Lemmingen (Name geändert). Ein Mann mit Rucksack streift an den Blauen Tonnen entlang, in denen frischer Papiermüll auf Abfuhr wartet. Spielerisch streicht er mit der Linken über die bereiften Plastikdeckel, öffnet plötzlich eine Klappe und senkt den Arm hinein. Lautlos, Augen und Ohren den dunklen Häusern zugewandt, sondiert der Unheimliche den Inhalt des Behälters. Zwei Tonnen weiter lockert er mit einem Messer den angefrorenen Verschluss. Wieder rührt seine Armsonde im kalten Papier. Da strafft sich die Figur des Phantoms, die herausgezogene Hand hält ein Buch, es verschwindet im Rucksack, zwei, drei weitere folgen, dann kommt die nächste Tonne an die Reihe. Auch hier wird die schwarze Gestalt fündig und sackt Gebundenes ein. Der Sack ist fast schon voll, als laut knatternd ein Rollladen hochgezogen wird – sofort senkt der Rucksackträger leise den Deckel und taucht ab.
Eine Anwohnerin äugt durch Fensterglas, sieht aber nur die scheinbar unberührten Blauen Tonnen am Straßensaum. Eine Polizeistreife rollt wohltemperiert vorüber. Der Rollladen fällt, es kehrt wieder Ruhe ein. Behutsam löst sich der schwarze Mann von einem kalten Baumstamm und strebt unbeirrbar den Blauen Tonnen vor dem nächsten Häuserblock zu. Anfang Oktober sitze ich behaglich bei dem „Täter“ in der Stube, der mittlerweile sieben weitere Male unterwegs war – was kein mystisches Zahlenspiel ist, sondern vom Müllkalender diktiert wird. „Es ist wie vor einem Bankraub“, gesteht er. „Du bist aufgeputscht und nimmst die Umwelt intensiver wahr, denn du kannst jederzeit einkassiert werden!“
Zwar ist das Vergehen nur eine Ordnungswidrigkeit, aber eine Festnahme unangenehm genug, um in Lemmingen auf ewig stigmatisiert zu sein. Paragraf 25 der Kreismüllverordnung spricht eine klare Sprache: Der Müll in der Blauen Tonne ist unantastbar. Otto Normalmüller vertraut darauf und scheut sich nicht, in den Plastiksarg zu stopfen, was eigentlich in ein hübsches Holzregal gehört: Bücher! Kulturgut ersten Ranges! Für den „Täter“, der sich aus langjährig gewachsenem Berufsethos längst „Meister der Blauen Tonne“ nennt, ist dieses Entsorgen der Druckwerke symptomatisch für den Abtritt unseres Dichter- und Denkervolks. „Bei uns ist die Blaue Tonne erfunden worden, um den Geist anonymer verklappen zu können. Ich bin der Retter der Bücher, Goethes Rächer!“
Was er denn schon alles gefunden habe in der Blauen Tonne, will ich wissen, und er zählt die Großen der Weltliteratur auf. Frischeste Neuerscheinungen, das Jüngste von Henning Mankell etwa, oder Titel, die in Ranickis Henkerstunde geköpft wurden. Aber etwa auch Meyers Großes Konversationslexikon von 1897 in 25 Bänden. Meist müsse er schon nach einer halben Stunde sein Basislager neben dem mütterlichen Haus ansteuern und den Rucksack ausleeren. „Erben sind besonders hilflos. Wenn die Tante viel gelesen hat, dann kommt das alles in die Blaue Tonne. Homer, Shakespeare, Wieland, Goethe, Heine – das liest sich ja nicht mehr in einer grundsanierten Wohnung.“
Er übertreibt nicht. Die Tonnenschmeißer sind alle Monster. Bei selbst gebackenem Hefezopf höre ich weitere Details aus des deutschen Saubermanns Normalexistenz: „Einmal fand ich im Papier eine Suppenterrine. Erst nur das Unterteil, dann nach einer längeren Wühlerei auch den Deckel! Ein andermal hatte ich plötzlich sowas Wuscheliges in den Fingern, das zugleich aber auch ziemlich feucht war, kugelig, wie ein Kopf. Ein Mord, denke ich und stecke es ein. Daheim stellt sich heraus, dass es so ein komischer Voodoo-Götze war, das war vielleicht ein Ding!“
Gemeinsam mit einem Gehilfen untersuchte das Phantom einmal auch den riesigen Container vor dem Beerdigungsinstitut. Beide bohren von zwei Seiten vorsichtig im Papierberg. Da trifft er auf einen Gummistiefel. „Du, sag ich, ich hab ’nen Stiefel! Sagt der Kurt: Und ich die Hand! War zum Glück nur ein Scherz.“
Doch zurück zu den Büchern. Manchmal, wenn der Rächer Geld braucht, landen sie in Antiquariaten, meistens aber kostenfrei bei Lesestoffbedürftigen, etwa bei meiner Schwester, die das subversive Treffen einfädelte. Hab ich erwähnt, dass der Rächer nahezu blind ist – was ich seinem Hefezopf nicht angemerkt habe? Erscheint sein Kampf gegen die Verklappung der Literatur darum nicht noch ungeheuerlicher? Buchwegschmeißer, schämt euch grün und blau! TOM WOLF
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