Tote Seelen wählen Putin

Bis zu 100 Rubel zahlten vor den Wahllokalen postierte Händler dem, der einen vorher ausgefüllten Schein in die Urne warf und den leeren zurückbrachte

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Ramai Yuldaschew glaubte nur seine Pflicht zu tun, als er am 26. März diesen Jahres, dem Tag der russischen Präsidentschaftswahl, die Wahlhelferin höflich um Einblick in die Wählerliste bat. Die Kollegin im Wahllokal 418 in Kasan hatte gerade einige handschriftliche Korrekturen an einem Verzeichnis vorgenommen. Und – wie sich herausstellte – lebendigen Wählern noch einige fiktive hinzugefügt, die sich als Parteigänger und stille Reserve Wladimir Putins entpuppen sollten. Der Skandal war perfekt. „Du jagst uns Angst ein“, verteidigte sich die ertappte Korrekteuse. „Ich habe zwei Kinder und keine Wahl.“

Wenige Minuten später schaut die Polizei nach dem Rechten und setzt Wahlhelfer Yuldaschew, den Vorsitzenden der tatarischen Jugendorganisation Asatlyk, wegen Trunkenheit vor die Tür und ahndet sein „ungebührliches Verhalten“ mit einer Geldbuße von 50 Rubeln (etwa vier Mark). Drei Wochen später in Machatschkala, der Hauptstadt Dagestans: Polizeioffizier Abdullah Magomedow stoppt drei Männer und eine Frau, die sich mit Regierungsausweisen Zugang zum Verwaltungsgebäude verschaffen. Als sie kurz darauf mit mehreren Säcken das Haus verlassen, wird Magomedow misstrauisch. Er lässt sich den Inhalt der Beutel zeigen und siehe da. „Sie waren randvoll mit gültigen Stimmzetteln für den kommunistischen Kandidaten Gennadi Sjuganow.“ Noch an Ort und Stelle leeren die Beamten die Säcke und verbrennen die Stimmzettel.

Einzelfälle? Klagen über massive Schiebereien wurden noch am Wahlabend laut. Vornehmlich Mitarbeiter der beiden Oppositionsparteien, der Kommunisten und der liberaldemokratischen Partei Jabloko, hatten in mehreren Regionen grobe Verstöße beobachtet. Die Beschwerden stießen indes auf keine Resonanz. Die staatlich gelenkten Medien, die ausnahmslos Wladimir Putin unterstützt hatten, ignorierten die Vorwürfe. Und selbst die betrogenen Konkurrenten ließen es an der nötigen Hartnäckigkeit fehlen. Der Grund: Wer in jenen Tagen an Russlands jungem Messias und erfolgreichem Tschetschenienbezwinger Kritik übte, lief Gefahr, sich unbeliebt zu machen (siehe Kasten unten). Ohnedies stand fest, dass Putin aus dem zweiten Wahlgang als haushoher Sieger hervorgehen würde.

In einer akribischen Recherche trug die in der russischen Hauptstadt erscheinende englischsprachige Tageszeitung Moscow Times dutzende Fälle zusammen, die einen Wahlbetrug belegen. Fazit: Ohne Betrug großen Stils wäre Wladimir Putin im ersten Wahlgang nicht zum Präsidenten gewählt worden. Nach Auswertung von 16 Prozent aller Wahlprotokolle allein in Dagestan stand fest: 88.000 Stimmen waren den Kandidaten gestohlen und Putin zugeschlagen worden. Die Ausbeute für die gesamte Republik dürfte nach Berechnungen der Moscow Times über einer halben Million veruntreuter Stimmen betragen. Die Annahme beruht auf einer konservativen Schätzung. Denn sicherlich hatte die Wahlkommission triftige Gründe, die übrigen 84 Prozent der Listen unter Verschluss zu halten.

Der krasseste Wahlbetrug fand zweifellos in Tschetschenien statt. In der vom Krieg verwüsteten Republik sprach über die Hälfte der Bürger dem Oberkommandierenden der russischen Streitkräfte,Wladimir Putin, ihr Vertrauen aus, 191.000 insgesamt. Selbst nachsichtigen internationalen Wahlbeobachtern ging dieser Schwindel zu weit. Sie weigerten sich, das Endergebnis anzuerkennen. Das änderte indes nichts an der Bewertung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die 400 Beobachter entsandt hatte. Sie stellte Moskau einen Persilschein aus (siehe Kasten rechts).

Angewandter Methodenpluralismus und regionale Spezifik der Betrugsarten verdienen besondere Aufmerksamkeit. Plumpe Tipp-Ex-Korrekturen der Protokolle waren eher selten. Einträglicher erwies sich der Rückgriff auf ein Motiv der klassischen russischen Literatur. Nikolai Gogols „tote Seelen“ – imaginäre Kreaturen korrupter Bürokraten – entpuppten sich als verantwortungsbewusste Staatsbürger. Dazu bedurfte es nur eines Amtshilfeverfahrens zwischen dem Sterbe- und Wählerregister. Für deren Unterbringung war auch gesorgt. Über Nacht wuchsen Wohnblocks um einige Stockwerke in die Höhe. Wer keine eigene Bleibe erhielt, den quartierte man als Gast bei fremden Familien ein. Alchat Zaripow, ein fünfundsechzigjähriger Rentner aus Kasan, war verwirrt: „Die Liste enthielt 209 Wohnungen, ich kenne doch unser Haus, da gibt es nur 180.“ Zaripow verlangte eine Erklärung. Der Wahlhelfer schnappte das Verzeichnis und machte sich aus dem Staub.

In Tatarstan trug nicht zuletzt das „Raupenspiel“ zur Erfüllung des von der Republiksführung erwünschten Wahl-Planziels bei. Bis zu 100 Rubel zahlten vor den Wahllokalen postierte Händler dem, der einen vorher ausgefüllten Stimmzettel in die Urne warf und den leeren zurückbrachte. Wer hatte das veranlasst? Moskau oder die Republiksführung? Beweise sind nur schwer zu erbringen. Indes gibt es Hinweise, dass der Druck nach unten effektiv wie selten zuvor funktionierte: Der Kreml wirkt auf die Republiksführer ein, das gewünschte Resultat zu garantieren. Die wiederum reichen den Auftrag mit Nachdruck an die Verwaltungschefs in den Provinzen weiter. Der Mechanismus läuft reibungslos bis hinunter zu den Kolchosvorsitzenden auf dem Land. „Und die bauen sich“, erzählt der Jurist Viktor Scheinis, „vor den Arbeitern auf wie eine Boa constrictor vor dem Kaninchen.“

Seinen Vorsprung verdankte Putin hauptsächlich der fiktiven Wählerreserve. In den drei Monaten zwischen der Parlaments- und der Präsidentenwahl im März 2000 verzeichnete das zentrale Wahlregister einen Rekordzugang von 1,3 Millionen Wahlberechtigten. In- und ausländische Demografen stehen vor einem Rätsel. Keiner kann bis jetzt den plötzlichen Zuwachs erklären.

Unterdessen bot auch die Zentrale Wahlkommission (ZIK) in Moskau keine befriedigende Antwort. Vorsorglich entfernte sie zunächst die Websites, denen die numerische Diskrepanz zwischen den 108 Millionen vom Dezember 1999 und den 109,3 Millionen vom Frühjahr 2000 zu entnehmen war. ZIK-Chef Alexander Weschnjakow führte die Differenz auf zwei Faktoren zurück: 550.000 Jungwähler und 480.000 Bürger Tschetscheniens seien neu hinzugekommen.

Eine andere Interpretation aus dem gleichen Haus schreibt den Wählerzuwachs einer überraschenden Einwanderungswelle aus den GUS-Staaten zu. Abenteuerlich indes klingt jene Version, die hinter den Neuzugängen amnestierte Gefängnisinsassen vermutet. Nun registrierte das Amt für Statistik im gleichen Zeitraum aber einen Bevölkerungsrückgang von 235.000 und nur 53.000 neue Einwanderer. Insgesamt verlor Russland also 182.000 Wähler . . .

Beim ZIK möchte man sich dazu nicht äußern. Anfragen werden mit höchster Zurückhaltung behandelt. Noch im Foyer des renovierten Prachtgebäudes im Moskauer Zentrum versucht der Pressechef ein vereinbartes Treffen zu verhindern. Vorwand: „falsche Papiere“. Der Irrtum klärt sich auf. „Er ist hier, und die Papiere sind in Ordnung, er lässt sich wohl nicht abweisen“, tuschelt er daraufhin ins Telefon.

Kommissionsmitglied Ljubow Agijewa kann ihre Nervosität nicht verbergen. Sie redet die ganze Zeit, sagt aber nichts. „Wir sind allen Beschwerden nachgegangen. Verstöße gegen das Reglement sind vorgekommen, aber in geringem Umfang“, meint sie. In Kaliningrad wurden Ergebnisse annulliert, nachdem Protokolle nachträglich verändert worden waren. In Saratow sind noch Verfahren vor Gericht anhängig. „Aussagen und Behauptungen von einzelnen Bürgern zu prüfen“, meint die von Präsident Putin als Vertreterin der Exekutive in die Kommission berufene Juristin, „ist nicht unsere Aufgabe.“ Sie spielt damit auf die konkreten Aussagen von identifizierbaren Klägern an, die in der Moscow Times zu Wort kamen, die das ZIK aber für unglaubwürdig hält. „Wir brauchen harte Fakten, die auf Papier nachprüfbar sind.“

Auch die Justiz spielt mit und räumt geringe Verstöße ein. Haarsträubende Fälle versacken unterdessen im Geflecht der Bürokratie. Die schickt die Kläger auf eine Odyssee: Gerichte verweisen Beschwerden an die Staatsanwaltschaft, mithin an die Exekutive. Deren Chef ist Präsident Wladimir Putin. Von dort geht es dann retour – zu den Gerichten in eine Endlosschleife. Laut Witalij Konstantinow, Rechtsberater der Kommunistischen Partei, sind 200 Klagen bei Gerichten anhängig. 1.000 Beschwerden wurden bei Staatsanwaltschaft und Polizei eingelegt, 2.000 bei Wahlkommissionen. Die Staatsanwaltschaft hat bisher die Hälfte aller Eingaben abgelehnt und nur jeder zehnten stattgegeben. Fünfzehn Prozent wurden nicht beantwortet, der Rest soll geklärt werden.