Wie Crack und Heroin

Psychologen warnen vor einer epidemischen Ausbreitung der Klatschsucht

Viele Abhängige verspüren am Anfang noch das Bedürfnis, ihre Sucht sozial zu camouflieren

Weia! Jetzt kommt’s knüppeldick: Nach einer Untersuchung der Universität Konstanz sind bereits 28 Prozent der erwachsenen Deutschen von einer neuen Sucht ergriffen. Klatschsucht, so der Name der rätselhaften Krankheit, breitet sich wie eine Seuche aus, ist aber lange nicht so harmlos. „Neue Substanzen mit bislang ungekanntem Suchtpotential zersetzen in kürzester Zeit die Persönlichkeit der Abhängigen“, berichtet der Psychologe Dr. Ulrich Schäfer (45). „Der Tratsch packt sie und übernimmt ihr Leben.“

Erschreckende Folge: Bis zu zwanzig Stunden täglich verbringen die Süchtigen mit Beschaffung, Konsum und Weitergabe ihres Stoffs – den Rest der Zeit dämmern sie teilnahmslos vor sich hin, sind kaum ansprechbar und schnarchen manchmal sogar. Zwar wurde zu allen Zeiten geklatscht, konzediert Dr. Schäfer: „Im Unterschied zu früher jedoch entstammen die zahllosen Gerüchte und Spekulationen nicht mehr der Lebenswelt der Betroffenen, der Umgang mit ihnen ist kulturell nicht geübt. Außerdem ist das Teufelszeug an jeder Ecke zu haben – für labile Charaktere eine ungeheure Versuchung.“

Wer dem Klatsch aus der Medienwelt erst einmal verfallen ist, braucht deshalb eine immer höhere Dosis. Denn nur die jeweils angesagtesten „News“ erzeugen das ersehnte High, den Kick, der die kaputte Seele des Drogenkranken kurzzeitig besänftigt. „Anfangs hat mir gereicht, wenn ich in der Frühstückspause meine Bild gelesen und mit den Kollegen darüber geredet habe“, erinnert sich Peter G. (28) aus Frankfurt. „Aber seit einiger Zeit gehe ich dauernd zwischendurch ins Internet, kaufe mir allerlei Illustrierte, suche verzweifelt Gesprächspartner, um den ganzen Stoff zu bearbeiten.“ Dabei verspüren zu Beginn viele Abhängige das Bedürfnis, ihre Sucht sozial zu camouflieren. Beim Kaffeeklatsch, in Kneipen, Büros und Wohnzimmern treffen sie sich mit anderen Rumourjunkies, um sich in schwindelerregende Tratschräusche hineinzureden. Dass sie dabei womöglich Unbeteiligte anfixen, ist ihnen gerade recht – in der bizarren Hierarchie der Süchtigen steigen sie sofort eine Stufe höher. Zu Hause allerdings wenden sich Partner und Angehörige oft angeekelt ab: „Ulla (23) lebt inzwischen in Gedanken ganz im Big-Brother-Haus, redet über nichts anderes mehr als über die Sache mit Dani und Karim bzw. Hanka und Marion bzw. Walter und Ebru“, berichtet ein betroffener Gatte (25). „Nur die Daum-Affäre hat sie zwischenzeitlich da rausgerissen – und das war noch viel furchtbarer.“

Irgendwann nämlich überkommt jeden, der sich in den Fängen des Klatsch befindet, schon morgens der übermächtige Wunsch, anderen mitzuteilen, was man von Jenny Elvers’ neuesten Nacktfotos hält, und dann ist da auch noch Uli Hoeness! „Man dreht förmlich durch“, sagt Dr. Schäfer. „Da ist so viel zu wissen und so viel mitzuteilen – und dennoch bleibt die unendliche Leere der eigenen Seele. Im schlimmsten Fall gründen solche Leute Stammtische und Fan-Clubs mit sektenähnlichen Strukturen. Die sind für uns natürlich nicht mehr zu erreichen.“

Viele Abhängige spüren freilich, dass die parasozialen Freunde aus den Medien sie ihren wirklichen Beziehungen entfremden. „Als ich aus meinem Job rausgeflogen bin, weil ich zehn-, zwölfmal am Tag Stoff aus dem Netz nachgeladen hatte, hab ich versucht, damit aufzuhören“, sagt Peter. „Aber man kommt einfach zu leicht an Nachschub.“

Gottlob gibt es auch noch die anderen, die auf Druck von Partnern oder Kollegen in eine Therapie einwilligen. „Wir versuchen, solche Fälle mit Isolation zu behandeln“, sagt Dr. Schäfer. „Kalter Entzug bei Wasser, kaltem Truthahn und totaler Medienabstinenz kann manchmal Wunder wirken. Und wenn nicht, kann man den Süchtigen immer noch Augen, Ohren und Mund mit Isolierband verkleben. Das hilft ihnen zwar nichts, uns aber umso mehr.“ Für einen dauerhaften therapeutischen Erfolg jedoch, so der Psychologe, müssten die Abhängigen lernen, die kleinen Dinge des Lebens wieder zu schätzen: „Zum Beispiel glücklich sein über dichte Bewölkung, über das Wachstum von Moos oder dass man überhaupt irgendwie am Leben ist. Der Schaden nach mehrmonatigem Dauerkonsum ist nämlich immens, der derzeit kursierende Klatsch so schlimm wie Crack und Heroin zusammen, nur nicht halb so lustig.“

MARK-STEFAN TIETZE