: Der wüste Sublimierer
Was Casanova mit Mozart vorhatte: Hanns-Josef Ortheil setzt noch einmal die romantische Idee von der Kunst der Verführung und der Verführung durch die Kunst in Szene – „Die Nacht des Don Juan“
von MICHAELA KOPP-MARX
In den Achtzigerjahren war er ein prominenter Verfechter des Gegenwartsromans. In den Neunzigern wanderte Hanns-Josef Ortheil ins 18. Jahrhundert aus und widmete sich Goethes Aufenthalt in Rom („Faustinas Küsse“) und Turners Studien in Venedig („Im Licht der Lagune“). Sein neuer Roman „Die Nacht des Don Juan“ markiert den Abschluss seiner historischen Künstlertrilogie. Wieder spielt die Handlung kurz vor Ausbruch der Französischen Revolution, wieder ist der Schauplatz in einer der damaligen Kunsthauptstädte Europas angesiedelt, in der der Leser einem Großen der Epoche begegnet: Mozart in Prag, 1787.
Für den Verfasser historischer Romane kommt vor dem Schreiben das Recherchieren, denn Setting und Figurenkonstellation sind vorgegeben. Im Oktober 1787 also trifft der weit gereiste Chevalier de Seingalt in Prag ein, um seinen venezianischen Landsmann Lorenzo Da Ponte zu besuchen, der an der Seite Mozarts die Proben zum „Don Giovanni“ leitet. Ins Ständetheater eingeladen, traut der Besucher Ohren und Augen nicht: Die Musik klingt wie von einem anderen Stern, doch die Figur des Don Juan scheint geradewegs aus dem Mittelalter entsprungen, so roh ist sie angelegt. Giacomo Casanova beschließt, seine eigene Version der Geschichte auf die Bühne zu bringen und Da Ponte zu vertreiben.
Casanova logierte im Herbst 1787 nachweislich in Prag, und Mozarts Librettist Da Ponte konnte das Stück tatsächlich nicht bis zur Premiere betreuen. Vermutlich ist Casanova für ihn in die Bresche gesprungen – das legen die in der Prager Bibliothek lagernden Papiere des „Casanova-Komplexes“ nahe, unter denen sich eine überarbeitete Fassung des Da Ponte’schen Librettos befindet. Ob die Casanova-Version, die bezeichnenderweise nicht mit der berühmten Höllenfahrt, sondern mit dem triumphalen Auszug des Verführers in einer Kutsche endet, je das Licht der Bühne erblickt hat, bleibt offen; durchgesetzt hat sich Da Pontes Textbuch.
Bei Ortheil jedenfalls setzt Casanova Himmel und Hölle in Bewegung, um sich selbst, den legendären Frauenheld, in die Bühnenfigur des Don Juan projizieren zu können. Aus dem Don Juan einen echten Don Giovanni, aus dem triebgesteuerten Vergewaltiger einen ästhetischen Verführer zu machen, der die Frauen nicht mit seinem Körper, sondern mit seinem Geist besticht – das ist der heimliche Plan des gealterten Libertins, der mittlerweile der Liebe entsagt hat, weil sie ihm zu gefährlich geworden ist. Ortheils Casanova sublimiert sein erotisches Begehren, indem er sich dem Genuss ausgesuchter Speisen und edler Getränke hingibt. Es dürfte kaum einen Roman geben, in dem so viel Sorgfalt auf die Beschreibung von feinsten Geschmacksvarianten verwendet wird.
Die „Nacht des Don Juan“ setzt noch einmal die urromantische Idee von der Kunst der Verführung und der Verführung durch die Kunst in Szene und verknüpft die Ereignisse auf der Opernbühne souverän mit dem privaten Schicksal der Romanhelden. Die Oper avanciert zum Abbild des Lebens und das Leben zum Abbild der Oper – wie im Traum des Ästhetizisten sind Kunst und Leben eins geworden. Casanova inszeniert ein venezianisches Maskenfest, das aufgebaut ist wie die Aktfolge eines Musikdramas, auf dessen Höhepunkt der Frauen schändende Da Ponte sich unfreiwillig als Wüstling Don Juan präsentiert.
Selbstverständlich wird in diesem Roman auch verführt, allerdings ganz romantisch aus Liebe und nie aus Berechnung, obwohl Casanova im Hintergrund omnipräsent die Strippen zieht. Traditionell sind die großen Liebenden die Frauen: Sie tun es selbstlos wie Constanze und die Duschek, kompromisslos wie die Bedienstete Johanna oder selbstbewusst wie die Grafentochter Anna Maria; und sie alle haben ihre Entsprechung in Mozarts Opernpersonal. Ortheil belässt es nicht bei inhaltlichen Parallelen, sondern komponiert seinen Roman nach den formalen Vorgaben eines Musikdramas. Das Geschehen ist szenisch angelegt, nämlich als rasche Abfolge von Einzelauftritten. Die Figuren erscheinen abwechselnd „auf der Bühne“, ihre Rede ist entweder dialogisch oder eine Mischung aus erlebter Rede und Erzählerbericht – Darbietungsformen, die den gesanglichen Pendants von Duett, Arie und Rezitativ entsprechen.
Dass der Roman virtuos gewebt ist, wird spätestens an der Verwendung des Leitmotivs der Vergewaltigung klar, mit dem die Handlung spektakulär einsetzt und mit dem sie rund 300 Seiten später auch endet. Ortheils „Nacht des Don Juan“ teilt nicht nur die erzählerische, sondern auch die ästhetische Geschlossenheit mit dem traditionellen Roman des 19. Jahrhunderts, in dem jedes erwähnte Detail eine Funktion im Gesamtgefüge hat. Und Mozart? Das meiste über ihn erfährt man von den Figuren, die um ihn kreisen, ihn beobachten und ihre Vermutungen anstellen. Doch ab und an lässt Ortheil den Leser an Mozarts Gedanken teilhaben, so wenn er in der Nacht vor der Premiere endlich die Ouvertüre komponiert.
Doch das eigentliche Zentrum des Romans ist Casanova, dem die schönsten Passagen gehören. Er erweist sich zuletzt als echter Held Hanns-Josef Ortheils, indem er nicht nur Da Pontes Textbuch auf die eigene Existenz als ästhetischer Verführer „umschreibt“, sondern den eigenen Mythos in Schrift übersetzt, nämlich seine Memoiren niederschreibt. Diese Schlusspointe entspricht den Fakten und hat zugleich eine Referenz im Schreiben des Schriftstellers Ortheil, dessen Romane immer wieder autobiografisch von der Initiation eines Schreibenden erzählen, der als Kind vom Verstummen bedroht war, schließlich zur Sprache kommt und Autor wird.
Hanns-Josef Ortheil: „Die Nacht des Don Juan“. Luchterhand Verlag, München 2000. 378 Seiten, 42 DM
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