Unbegriffen, aber machbar

Die Lücke zwischen Science und Science-Fiction: In München versuchten Schriftsteller und Kulturwissenschaftler, das weite Feld der Humangenetik auf einem Symposium zu vermessen

von RUTH SPIETSCHKA

Die Humangenetiker lesen im Buch des Lebens. Die Buchstaben des menschlichen Urtexts werden entziffert. Solche und ähnliche Formulierungen charakterisieren die Auseinandersetzung mit der Transkription des menschlichen Gencodes, durch die sich wie ein roter Faden die Metaphorik der Schrift und des Lesens zieht. Doch stimmen diese Sprachbilder, die ja auch Denkmuster sind? Beschreibt die Kulturtechnik des Lesens tatsächlich das, was Biowissenschaftler tun? Kann man Körper lesen? Verschwindet die Grenze zwischen Science und Fiction, wenn harte wissenschaftliche Texte als literarische gelesen werden? Führt die Komplexität der Wissenschaft zur Flucht in archaische Bilder, wie der Wissenschaftshistoriker Olaf Breidbach meint? Oder sind sie, wie der Dichter Durs Grünbein vermutet, Teil eines Ideologisierungsprogramms, das die tatsächlichen Vorgänge verharmlost und die Natur- mit den Geisteswissenschaften versöhnen soll?

Grünbein und Breitbach waren Teilnehmer eines prominent besetzten Symposiums über Humangenetik und Literatur, zu dem die Bertelsmann Buch AG und das Literaturhaus München eingeladen hatten. Unter dem Titel „Der neue Mensch“, der – gewollt oder ungewollt – die von Nietzsche geprägte Vision des deutschen Expressionismus zitiert, diskutierten Schriftsteller, Kultur- und Biowissenschaftler drei Tage lang nicht nur über das Gen als Metapher und literarische Zukunftsentwürfe, sondern auch über die Wechselwirkungen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften sowie die gesellschaftlichen Folgen der Gentechnologie. Im Mittelpunkt standen in München mithin Fragen, die auf den Konferenzen der Genetiker nicht gestellt werden, wie der Molekularbiologe Jens Reich berichtete, der gerade von einer solchen Tagung nach München kam. Diese Beobachtung scheint den illusionslosen Befund Durs Grünbeins zu stützen, demzufolge es keinerlei Berührung gebe zwischen den literarischen Diskursen und dem Tun der Naturwissenschaftler.

Ganz in der Tradition der prominentesten literarischen Zukunftsentwürfe von Mary Shelleys Frankenstein bis hin zu Huxleys „Schöner neuer Welt“ und Orwells „1984“ dominierten in München die Kassandrarufe. Der Schriftsteller Ulrich Woelk, ein studierter Astrophysiker, warnte vor den Folgen eines biologischen Determinismus, der den Menschen zum bloßen Objekt seiner Gene degradiere und das Genom zu einer neuen heiligen Schrift werden lasse: „Der Mensch nicht mehr als von Gott und der Natur geformtes Wesen, sondern als Markenware, als Highend-Produkt des besten Anbieters pränataler Checkups und gentechnischer Aufrüstung.“ Für den Philosophen Boris Groys erreicht in der Gentechnik eine Entwicklung ihr (vorläufiges?) Ende, die sich bereits in der Psychoanalyse abzeichnete: „Der Wissenschaftler weiß mehr über mich, als ich jemals wissen kann!“ Nach Ansicht der Berliner Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun verschleiert der genetische Blick in die Zukunft, „dass die Zukunft selbst eine historisch gewachsene ist“. Oder mit den Worten von Durs Grünbein: „Das Unbegriffene wird ersetzt durch das Gemachte.“

Welche Räume die Gentechnik für die experimentelle Literatur inhaltlich wie formal eröffnet, zeigen die unorthodoxen Übersetzungen der Sonette Shakespeares durch Ulrike Draesner, die sie selbst als „Radikalübersetzungen“ charakterisiert. Im Frühjahr 1997, als die Nachricht von der Geburt Dollys, des ersten geklonten Schafes, um die Welt ging, erschienen ihr diese klassischen Liebesgedichte in einem gänzlich neuen Licht: Die Texte, die vor dem Hintergrund eines scharfen Vergänglichkeitsbewusstseins Träume vom Überleben formulieren, sprachen plötzlich vom Klonen: „Die genmanipulativen Möglichkeiten, die 1997 Wirklichkeit wurden, haben den Bezugsrahmen von Zeugung, Mortalität, Individualität und Reproduktion vollständig verändert. Klonen ist die technisch fortgeschrittenste Ausformung des Überlebenstraums.“

Die in München vertretenen Mediziner und Biologen widersprachen den Schreckenszenarien eines biologischen Determinismus mehr oder weniger unisono: Dem Arzt und Wissenschaftsjournalisten Werner Bartens zufolge nährt einzig das Prinzip Hoffnung die Goldgräberstimmung, die an der Börse durch die Entschlüsselung des menschlichen Genoms ausgelöst wurde. Jens Reich sprach von einem Wechsel auf die Zukunft, „der nicht eingelöst werden könne“. Und Ernst Pöppel, der Vorstand des humanwissenschaftlichen Zentrums der Uni München, nannte die Idee eines Hirnchips „Unfug, dem jede faktische Basis fehle“: Aufgrund der Komplexität des menschlichen Nervensystems mit seinen hundert Milliarden Nervenzellen sei es dem Menschen schlicht unmöglich, sich selbst zu reproduzieren. Allerdings ist er sich sicher, „dass wir genetisch weiter rumfummeln und dabei irgendwann irgendwelche Wesen produzieren werden, deren Komplexität wir auch nicht mehr überblicken werden“.

Pöppel war es auch, der als Erster die vielleicht wichtigste Frage des Münchner Symposiums formulierte: Warum wird die Humangenetik gerade jetzt zum zentralen gesellschaftlichen Thema? Schließlich gibt es die pränatale Diagnostik seit 20 Jahren, das erste Retortenbaby ist inzwischen Teenager, und auch Dolly steht schon seit drei Jahren auf der Weide. Von gentechnisch manipulierten Tomaten ganz zu schweigen. Warum also jetzt die ganze Aufregung? Eine Frage, die in München wie viele andere offen blieb.