: „Glücklicher Unfall“
Der Soundtrack für den Blick nach draußen: Willard Grant Conspiracy erwärmen den Herbst mit unendlicher Ruhe
Ja, es gibt diese Tage. Gern im Herbst, wenn die verfärbten Blätter sich nicht mehr dekorativ am Baum festhalten wollen, sondern sich, herabgeweht von einem frostigen Wind, mit ihren Brüdern im Rinnstein zu einem glitschigen Klumpen vereinen. Diese Tage verlangen einem einiges ab und vertragen deshalb nicht noch Musik, die zu viel von einem verlangt.
Musik an diesen Tagen muss fließen und tröpfeln, sanft die Lücken füllen zwischen dem Blick nach draußen und depressiven Anflügen. Musik an diesen Tagen muss sein wie die Musik der Willard Grant Conspiracy. Und Stimmen an diesen Tagen müssen sein wie die von Robert Fisher: ein weicher, schmeichelnder Bariton, dessen Timbre der Musik seiner Band eine unendliche Ruhe verleiht.
Dass die Themen des eher losen Projekts, das sich in Boston um Fisher und seinen Songschreibpartner und Gitarristen Paul Austin gruppiert, vorzugsweise aus Klischees bestehen, passt ins Konzept. Schließlich ist die herbstliche Melancholie mittlerweile ein ebenso abgegriffenes Gefühl wie der Hybrid aus Folk und Country, den Willard Grant Conspiracy dank einer stetig wechselnden All-Star-Besetzung aus der Americana-Szene so souverän wie kaum jemand spielen. „Die Band war so niemals geplant“, sagt Fisher, „sie war und ist immer noch ein glücklicher Unfall.“ Beim aktuellen Tonträger „Everything's Fine“ mischten unter anderem Carla Togerson von den Walkabouts, Chris Brokaw von Codein und Come und Edith Frost von den Holly Sisters mit.
In solch illustrer Begleitung begibt man sich gern ein weiteres Mal auf den Weg „down the rough road where the asphalt is split“, wünscht sich von der Liebsten, sie möge einen lieblichen Song singen, wenn man tot ist, und besucht zum Abschluss diese Bar im Sand Canyon, zur „Closing Time“ eben. Dass Fisher als einen seiner Haupteinflüsse den guten alten Charles Bukowski angibt, verwundert nicht. Nicht so versoffen, aber ansonsten ganz in dessen Tradition schätzt er seine Texte als „realistisch, beobachtend und sogar hoffnungsvoll“ ein. „In manchen von ihnen gibt es sogar Humor“, sagt er, „wenn man intensiv genug danach sucht.“
Also blickt man in diese Songs. Humor ist es nicht unbedingt, was man darin sucht. Was manfindet, ist der perfekte Soundtrack für den Blick nach draußen in diesen Tagen. Und die Gewissheit, dass jemand anderes bereit ist, einem die allzu ungesunde Seite der Melancholie abzunehmen. „In manchen Städten“, hat Gitarrist Paul Austin bei Live-Auftritten festgestellt, „stehen die Leute einfach da mit gefalteten Händen und sehen uns an, als hätten sie absolut keine Ahnung, warum wir so klingen wollen, wie wir klingen, sie sehen uns an, als müssten wir ihrer Meinung nach ein paar ernste Probleme haben. Andererseits: Vielleicht haben wir die ja.“ Bestimmt sogar. Aber solange es sich so grandios anhört, kann der Besuch beim Psychiater zumindest noch bis zum nächsten Herbst warten.
THOMAS WINKLER
Konzert: heute, 22 Uhr, Tacheles, Oranienburger Str. 53 – 56, Mitte
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