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Räkeln, Kuscheln, Fläzen

Offensive Formen des Liegens: Mit „Lümmellandschaften“ provozierte Ende der 60er-Jahre die erste Wohlstandsjugend nach dem Zweiten Weltkrieg die Erwachsenenwelt. Bis heute gilt eine solch informelle Lebensart als attraktiv – und bequem

von MICHAEL KASISKE

„Sich in betont nachlässiger, unmanierlicher Weise zu setzen oder zu legen“, wird im Duden das Tätigkeitswort „lümmeln“ beschrieben. Mit dieser offensiven Form des Liegens konnte die erste Wohlstandsjugend nach dem Zweiten Weltkrieg die Erwachsenenwelt Ende der Sechzigerjahre ohne viel Zutun provozieren. Damit wurde ein innovativer Verhaltenskodex hervorgebracht, der die Möbeldesigner zu einer Kultivierung anregte: „Lümmellandschaften“, ein salopper, doch treffender Begriff, der mit doppeltem L-Laut in der Mitte Assoziationen an Liebe, Lust und Leidenschaft hervorruft, mit denen der Muff von tausend Jahren vertrieben werden sollte.

Von solch warmer Freizügigkeit scheint „Blue Bench“ von Edra, entworfen von dem belgischen Designer Maarten van Severen, auf den ersten Blick nichts zu haben. Und wenn man den Begriff Landschaft bemühen würde, käme man eher auf einen gefrorenen Eisblock: Auf einer Matratze ist ein lose aufliegender Quader in der Länge des Objekts drapiert. Das Mehr daran ergibt sich aus der Abweichung im Detail: „Blue Bench“ repräsentiert sich mit seinem dicken Querschnitt und dem leuchtenden Yves-Klein-Blau allem Understatement zum Trotz wie eine weiche, dichte Masse, die einen sinnlichem Charakter ausstrahlt.

Van Severen huldigt mit dem Möbel einerseits einem zeitgemäßen Minimalismus, andererseits den heute nur noch in altmodischen Romanen geläufigen Diwanen. Die Vorbilder aus dem verklemmten 19. Jahrhundert stehen für niedrige Liegesofas ohne Rückenlehnen. Wegen ihres türkischen Ursprungs rufen sie Vorstellungen von üppigen Polstern mit vielen Kissen hervor, in ihrer Zeit zeugten sie jedoch wohl eher von dem Bedürfnis nach Ausbruch aus dem von Regeln bestimmten Leben als von tatsächlicher Freiheit.

Heutige „Lümmellandschaften“ haben ihren Ursprung in den „Ready-Mades“ aus zusammengruppierten Sesseln oder einfach nur Matratzen. Gegen das behäbige Sofa opponierten die 68er mit diesen Liege- und Sitzstätten, die der Welt außerhalb der ersten Kommunen als Orte des Lasters erschienen. Diese Flächen zwanglosen Aufenthalts signalisierten ein Wohlsein, für das geläufige Wertungen wie „gemütlich“ antiquiert wirken.

Die lässige Lebensart zu Beginn der Siebzigerjahre bot den Designern ein weites Aufgabenfeld, in dem sie etwa Möbeltypen wie Polstermodule entwickelten: Diese Elemente lassen sich zu endlosen Polsterfeldern zusammenfügen. Ein Beispiel – freilich im zurückhaltenden Erscheinungsbild der Gegenwart – ist „Cubista“, ebenfalls hergestellt von Edra. Der italienische Designer Massimo Morozzi entwarf 1999 die auf ein Quadratmaß aufbauenden Sitz- und Hockerelemente, die sich zu großzügigen Liegeflächen zusammen-, für den formellen Besuch auseinander schieben lassen. Durch ihre kubische Form erlangen die Formationen dennoch eine homogene Wirkung. Dass von den 68ern auch Konsumerables überkommen ist, scheint eine Ironie der Geschichte zu sein. Denn die in dieser Zeit gezeigten Kodes für Wohnungseinrichtungen, meist reduziert auf Matratzen und Obstkisten, veranschaulichen eindeutig die Verweigerung der Warenwelt. Die wie zufällig entstandenen „Lümmellandschaften“ setzen denn auch als Mittelpunkt des Raums vielmehr Zeichen, was die Besitzer in das Zentrum ihres Lebens rücken: Bequemlichkeit und Lässigkeit bei Arbeit und Freizeit.

Diese Nutzungsbreite legte offensichtlich der französische Stardesigner Philippe Starck dem Konzept des „L.W.S“.-Sofas zugrunde. So zeigt es der Hersteller Cassina in den Prospekten mit arbeitenden, Fernseh guckenden oder ruhenden Pärchen. Ausgeschrieben heißt es sinnstiftend „Lazy-Working-Sofa“ und findet laut einschlägig versierter Möbelverkäufer großen Anklang bei Yuppies und jenen, die welche werden wollen. Dabei gibt die Gestalt des L.W.S.-Sofas das Bild eines klassischen Sofatyps mit Seiten- und Rückenlehne ab; nur die Vergrößerung der Sitztiefe auf knapp ein Meter ergibt die Liege- und Lümmelfläche. Seitlich können Ablagen installiert werden, in die elektrische Zuleitungen für Lampen und Laptop integriert sind.

Dagegen ist „Anfibio“ ein echtes „Leitobjekt“, womit eine direkte Umsetzung zeitgenössischer Ästhetik gemeint ist. Der die Liegefläche umschließende Wulst strahlt einerseits Geborgenheit aus, andererseits dient er praktisch als Rückenlehne oder Ablage für den geselligen Aufenthalt. Ein stolzer Besitzer sagte mir mal, es sei das Gefühl, in einem Schlauchboot zu liegen. Auch zusammengefaltet gibt „Anfibio“ durch den knautschigen Wulst als Rücken- und Armlehne einen bequemes Bild ab. Es war sein erster Entwurf nach dem Studium, den Alessandro Becchi 1970 für Giovannetti entwickelte. Seitdem ist das handwerklich gefertigte Stück, das der Urheber mit einem solide genähten Schuh vergleicht, über 25.000-mal hergestellt worden. Die schlichte Schönheit und die Ambivalenz dieses Möbels begeistern. „Ein richtiges Sofa und ein richtiges Bett“ – Becchi wollte nicht die Kompromisse der immer unbequemen Klappcouchen eingehen, was ihm mit „Anfibio“ gelungen ist.

Eine eindeutige Zeichenhaftigkeit der Objekte, die als Chiffre typisch für 1968 angesehen werden könnte, kann allerdings auch mit „Anfibio“ nicht reklamiert werden. Vielmehr kehrt mit der „Lümmellandschaft“ eine informelle Lebensart zurück, die ihre Besitzer angesichts der wechselhafter werdenden Informationsströme eine wohlige Lehne beim Surfen mit dem Notebook oder vor dem TV bieten.

Möbel von edra, www.edra.com, gibt es u.a. bei: wohnart, Uhlandstr. 179/180, 10623 Berlin; dopo domani, Kantstr. 148, 10623 Berlin; Delikatessen Requisiten Fundus Berlin, Charlottenburger Ufer 16 A, 10587 BerlinMöbel von cassina, www.cassina.it, gibt es u.a. bei: Interni, Potsdamer Str. 58, 10785 Berlin; Minimum im Stilwerk, Kantstr. 17, 10623 Berlin; Neue Wohnkultur, Hauptstr. 92/93, 12159 Berlin; Planen + Wohnen Schlüter, Münzstr. 53, 10178 BerlinMöbel von Giovanetti, www.giovannetti-collezioni.it, gibt es bei Nuovo Milano, Kantstr. 143, 10623 Berlin.

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