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Atemlos durch die moralische Lehranstalt

■ Irmgard Paulis hat am Bremer Theater Carlo Collodis berühmtes Kinderbuch „Pinocchio“ inszeniert

Pinocchio will kein Tischbein werden. Für einen Pinienbaumstamm ließen sich in der Tat auch andere Geschicke ausmalen. Doch Pinocchio will ausgerechnet ein Mensch werden, was für ein Stück Holz, selbst wenn es sprechen kann, die denkbar schwierigste Option ist.

Nun, wie wird man ein Mensch? Carlo Collodi hat diese Frage in einem Fortsetzungsroman für eine italienische Kinderzeitschrift zu beantworten gesucht. Ob aus Holz oder aus Fleisch und Blut: Mensch wird, wer allzeit Vater und Mutter gehorcht, fleißig lernt, Spiel und Spaß als Zeitvergeudung betrachtet und sich fraglos der staatlichen Autorität unterwirft.

Was dem Florentiner Journalisten Collodi vor 120 Jahren als erzieherisches Ideal vorschwebte, mag man heute nicht einmal mehr in einer Soldatenkaserne als bindenden Kodex akzeptieren. Und doch führten so viele Eltern ihre Kinder zur Premiere von „Pinocchio“ am Goetheplatz, dass kaum ein Platz in dem riesigen Theater mehr frei war. Warum?

Weil die Geschichte des kleinen toskanischen Holzbuben auf dem entbehrungsreichen Weg zu einem „ragazzo perbene“, zu einem rechtschaffenden Jungen, einen zeitlosen Subtext hat. „Pinocchio“ erzählt eben nicht nur den traurigen Weg eines eigenwilligen Kindes in die konformistische Erwachsenenwelt. „Pinocchio“ erzählt darüber hinaus die Geschichte der bedingungslosen Treue eines Vaters zu seinem Sohn, erzählt vom unermesslichen Wert der Solidarität, von Freundschaft, Vergebung, anrührender Liebe.

In ihrer Inszenierung hat Irmgard Paulis vor allem dies in den Mittelpunkt zu rücken gesucht. In einem furnierten Ganzkörpertrikot stakselt sich Paulis Pinocchio (Katrin Sagener) durch die bekannten Konflikte mit der bösen Katze (Boris Wagner) und dem durchtriebenen Fuchs (Benjamin Kropp), weiß sich umsorgt von der guten Blauen Fee (Prisca Maier) und dem Vater Geppetto (Pago Balke) und überhört geflissentlich das mahnende „Wehe wehe wehe“ der Grille (Andrea Köhler), die Pinocchio lange Zeit vergeblich vor dem nächsten Fehltritt warnt.

Dank der ausstatterischen Opulenz, zu der nur ein Stadttheater in der Lage ist, findet die Inszenierung vor allem nach der Pause zu sehr poetischen Bildern, verwandelt sich die Bühne dank des wunderbaren Bühnenbildes von Nicola Reichert in ein blaues Meer, eine von skurrilen Artisten bevölkerte Zirkusarena und den gewaltigen Rachen eines noch viel gewaltigeren Haifisches. Doch so stimmig bis in die winzigsten Kleidungsstücke (Kostüme: Christine Mayer) die an einen Dickens-Roman erinnernde Atmosphäre des 19. Jahrhunderts beschworen wird, so wenig überzeugt die Darstellung der inneren Auseinandersetzungen, die die Hauptfigur durchläuft.

Wie im Zeitraffer treibt es Pinocchio durch die Geschichte. Gerade atemlos springt er von einer Situation in die nächste, ohne dass Paulis es zulässt, dass sich die Dramatik der Konflikte wirklich entfalten kann. Nicht einmal die Zeit, den kurzzeitigen Verlust des Vaters zu betrauern, wird Pinocchio gegönnt. Diesem Tempo fällt schließlich sogar die Logik zum Opfer, so dass Pinocchio plötzlich Grabsteine lesen kann, ohne zuvor das Lesen gelernt zu haben.

Ein guter Mensch wird der Holzbube am Ende dennoch. Schade nur, dass das ebenso emotionslos an einem vorbei rauscht wie ein Großteil der technisch perfekten, aber merkwürdig kühlen Inszenierung. Franco Zotta

Weitere Vorstellungen: 7.,8., 23. November 10 und 13 Uhr; 9./10. November 10 Uhr; 13. November 11 und 14 Uhr, 15. November 10 Uhr. Karten und Infos: Tel.: 365 33 33

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