Am Anfang steht immer „die Wunderfrage“

■ Norddeutsches Institut für Kurzzeittherapie geht neue Wege: Der Kurzzeittherapie für erwachsene Alkoholkranke soll jetzt ein Angebot für Kinder Suchtkranker folgen

Das Norddeutsche Institut für Kurzzeittherapie (NIK) geht in der Suchttherapie für erwachsene Alkoholkranke neue Wege. Ihnen macht das NIK ein bremenweit einzigartiges „niedrigschwelliges“ Angebot: Wer den großbürgerlichen Altbau Außer der Schleifmühle 40 betritt, muss sich nicht dem Fernziel einer totalen Alkohol-Abstinenz verschreiben – sondern kann sich auch für „kontrolliertes Trinken“ entscheiden. Jetzt geht das NIK noch weiter. Bald will es auch Therapien für Kinder von Suchtkranken anbieten. Ein in der Bundesrepublik einmaliges therapeutisches Angebot – vorausgesetzt, die Behörden stimmen der beantragten Kostenübernahme zu.

Die Idee zur Kinder-Therapie ist aus der Sicht der PraktikerInnen von NIK naheliegend, auch weil sie immer wieder erleben, dass suchtkranke Eltern enorme Schuldgefühle haben. „Sie wissen, dass ihre Sucht für die Kinder eine große Last ist“, sagt Therapeutin Agnes-Christine Nelle. Mit den Eltern diese Schuldgefühle zu bearbeiten, sei hilfreich für deren Therapie – vorausgesetzt, auch den Kindern werde wirklich geholfen. Die nämlich kommen in aller Regel hinter der Sucht der Eltern zu kurz.

Manche der Kleinen reagieren schon früh mit Auffälligkeiten wie Schuleschwänzen, Konzentrationsstörungen oder Aggressionen. Außerdem seien Kinder von Alkoholkranken auch dem erhöhten Risiko ausgesetzt, eines Tages selbst zur Flasche zu greifen. Das geplante Angebot in Form von altersspezifischen Kleingruppen (für Kinder zwischen vier und 18 Jahren) diene deshalb auch der Prävention. Die NIKs erwarten, dass die Hinweise auf ihre künftigen jungen Klienten aus Schulen oder Kindergärten kommen.

Wie die Alten sollen die Jungen beim NIK eine Kurzzeittherapie durchlaufen können. Zehn bis 15 Sitzungen sind angestrebt, mehr sind möglich. Und wie für die Großen gilt für die Kleinen: „Ihre Ziele setzen sie selbst.“ Schwerpunkt für Jung und Alt ist dabei zumeist, dass sie lernen, schwierige Situationen anders zu meistern als gewohnt. Während das für Erwachsene oft bedeutet, bei Stress nicht zum Glas zu greifen, kann es für Kinder beispielsweise heißen, nicht mehr einfach zuzuschlagen. Oder nicht immer wieder mit Rückzug zu reagieren – bis alle Freunde verloren sind. Oder oder oder.

„Kinder können bei uns zum Beispiel auch lernen, wie man Meister der Selbstbeherrschung wird“, erzählt Agnes-Christine Nelle ein wenig verschmitzt, wie sie beispielsweise den elfjährigen Elias „geködert“ hat. Der aggressive Sohn zweier trinkender Eltern fand nicht, dass er mit der Therapie seiner Eltern zu tun haben könnte. Bis die Therapeutin ihn gleich beim ersten Treffen ansprach: „Ich habe gehört, dass du toll kämpfen kannst?“, um dann nachzusetzen, ob Kämpfer Elias auch wirklich alle Regeln der Kampfkunst kenne? Die der Beherrschung beispielsweise? Dass Elias von da an mehr wissen wollte, war natürlich kalkuliert. Monatelang kam er gerne und lernte spielerisch, in bedrängenden Situationen nicht gleich auszuflippen. Schließlich bestand er sogar sein „Diplom“ als „Meister der Beherrschung“ – unter dem Beifall von Eltern und Therapeuten, wie Nelle berichtet.

Die Therapeutin betont dabei: „Wir lassen Eltern an der Therapie teilhaben – und machen auch klar, welchen Anteil sie an der Verhaltensänderung, und damit am Erfolg ihres Kindes haben.“ Diese positive Erfahrung bringe in der Familie einiges in Bewegung und lockere so festgefahrene Strukturen auf. Überhaupt ist die Therapie bei NIK darauf ausgerichtet, dass die TeilnehmerInnen sich ein lohnenswertes Ziel stecken – damit sie wissen, worauf sie hinarbeiten. „Das Positive motiviert.“

Was das angestrebte Schöne sein könnte – darauf gibt immer „die Wunderfrage“ Antwort. Sie steht am Anfang jeder Therapie. „Was würdest du morgen tun, wenn die Fee dir über Nacht deine größte Sorge nehmen würde?“, lautet diese Frage an Kinder. Aber sie wird auch Erwachsenen gestellt – nur kommt dann keine Fee vor. Die Antworten erlauben den TherapeutInnen tiefe Einblicke in den Alltag ihrer KlientInnen – wenn die sich beispielsweise wünschen, einmal morgens keine Kopfschmerzen zu haben, oder mal in Ruhe zu Frühstücken. Oder wenn der elfjährige Elias sich danach sehnt, mal wieder mit dem Vater Walkie-Talkie zu spielen, wie früher, als Vater noch seltener blau war.

Was vielleicht traurig klingt, hat in der Therapie sein Gutes: Die KlientInnen setzen sich positive Ziele. „Oder sie erinnern sich wie Elias daran, dass nicht alles schlecht war. Das ist wichtig“, sagt die studierte Sozialpädagogin Nelle, die bei NIK ihre Ausbildung zur Suchttherapeutin absolviert hat. In der NIK-Ambulanz komme es darauf an, dass die KlientInnen sich ein erreichbares Ziel steckten. Fragen wie: „Woher kommt meine Sucht?“, gehören dazu weniger.

Nelle hat das Kurzzeit-Konzept, das die Landesversicherungsanstalt im Rahmen eines mehrjährigen, erforschten Modellversuchs unterstützt, mit entwickelt. Sie sagt: „Die Suchtkranken lernen bei NIK, neue Gewohnheiten zu trainieren – und auch Rückfallmanagement für den Fall der Krise.“

Die Erfolgsquote bei NIK kann sich sehen lassen, heißt es. Aber TherapeutInnen von NIK warnen auch, dass das „Trinken in Maßen“ für einen Alkoholiker schwieriger sein kann, als trocken zu werden. Deshalb entscheiden sich viele Klienten nach einer ersten „maßvollen Phase“ später für die Abstinenz. Untersuchungen aus Belgien zeigen bereits, dass die Kurzzeittherapie und die mit ihr verbundenen Entscheidungsfreiheiten offenbar erfolgreich sind. ede