Nanoschleier über der Stadt

Der Hacker, die Heldin und die Frage nach dem richtigen Verhältnis zur Macht: Der amerikanische Cyberromancier Neal Stephenson glaubte schon an die Zukunft, als diese noch in weiter Ferne lag

von TOBIAS RAPP

Den Cyberspace kennen wir mittlerweile, diese virtuelle Welt zwischen den Buchsen, mit denen unsere Computer verkabelt sind. Aber Nanotechnologie? Dieser Kram, wo neulich in der FAZ was drüber stand, irgendwas mit kleinen Robotern oder so? Ein Lob auf die Genre-Literatur: Wer sich in den letzten Jahren hier ab und zu mal umschaute, konnte der Technologie-Offensive, die seit einigen Monaten durch Feuilletons und Kneipengespräche geistert, einigermaßen beruhigt gegenübertreten – klar, Nanotechnologie, alter Hut, kleinstmögliche Maschinen. Maschinen, die – denkt man die Idee zu Ende – nur wenige Atome groß sind, und damit so klein, dass man sie nur in Spezialmikroskopen sehen kann. Daran wird in Labors gearbeitet, das kann man sich auf den Homepages der jeweiligen Institute anschauen und darüber wird geschrieben. Sachbücher und Literatur, Fiction. Science Fiction.

In Neal Stephensons Shanghai des späten 21. Jahrhunderts hat die nanotechnologische Revolution bereits stattgefunden, und der Smog über der Stadt besteht nicht mehr aus Abgasen von Verbrennungsmotoren, sondern aus Kleinstmaschinen – Nanositen –, die wie Milben über den ärmeren Stadtvierteln liegen. Die reicheren Gegenden haben sich durch komplizierte Absaugeinrichtungen gesichert sowie durch die Herstellung und massenweise Ausgabe von Gegenmilben, die sich an andere Nanositen anklammern und durch dieses Herstellen von Ketten die Milben so sehr vergrößern, dass sie irgendwann vom Regen in die Kanalisation gewaschen werden. Landwirtschaft gibt es nicht mehr, die Einzigen, die noch auf Feldern gewachsene Früchte essen, sind die Mitglieder der reichen Oberschicht. Alle anderen versorgen sich aus Feedern mit dem, was sie zum Leben brauchen, kleinen Kästen, die in Windeseile alles von der Mahlzeit bis zur Matratze herstellen können. Kleine Kästen aus künstlich hergestelltem Diamantglas. Das späte 21. Jahrhundert ist das „Diamond Age“.

Und Neal Stephenson, zumindest für die Village Voice, der „Quentin Tarantino des Cyberpunk“. Viel mehr gibt es über ihn jedoch auch nicht zu vermelden. 1959 wird er in Fort Meade, Maryland geboren, sein Vater ist Professor für Maschinenbau, der eine Großvater ist Professor für Physik, der andere für Biochemie, seine Mutter arbeitet in einem biochemischen Labor. Er studiert in Boston Physik und Geografie und fängt an zu schreiben, weil er nicht vorhat, in einem Job zu arbeiten, wo man Lederschuhe tragen muss.

Das ist nicht allzu viel, Stephenson gibt nur äußerst selten Interviews. Öffentliche Auftritte, wie zur Verleihung eines Preises bei der letzten ars electronica in Linz, wo sein Buch „Cryptonomicon“ ausgezeichnet wurde, sind die große Ausnahme. Stattdessen stellt er lieber ein FAQ auf die Homepage für „Cryptonomicon“, um all die Frequently Asked Questions ein für alle Mal zu beantworten, die immer wieder aufs Neue gestellt werden. Wird er doch einmal persönlich, dann nur um zu sagen, er habe an der Uni den Fachbereich danach ausgesucht, wo die besten Computer stehen.

Im Grunde reicht das auch, tatsächlich sieht man jedem Buch von Stephenson an, woher er kommt: Er ist einer von denen, die in den Achtzigerjahren vor irgendwelchen Rechnern saßen, programmierten und spielten, einer von denen, die damals Netzwerke knüpften und Firmen gründeten. Leute, die heute – wenn sie Glück hatten – riesige Unternehmen leiten und viel Geld verdienen oder – wenn sie Pech hatten - immer noch irgendwelche Programmierjobs machen müssen, weil ihr Geld von Rechtsstreits über Copyrightfragen aufgefressen wurde. Dementsprechend ist die Grundkonstellation in Stephensons Büchern immer die gleiche: Es gibt den Hacker, das Alter ego des Autors, es gibt die eigentliche Heldin, und es gibt die Frage nach dem Verhältnis zur Macht.

So funktioniert „Snow Crash“ von 1992, die Geschichte eines Hackers, der in der nahen Zukunft – also etwa heute – versucht, die Computernetzwerke vor einem äußerst gefährlichen Virus zu schützen. „Cryptonomicon“ aus dem vergangenen Jahr ist so, dort widmen sich zwei Generationen von Hackern der Chiffrierung und Dechiffrierung von Daten. Der Großvater arbeitet während des Zweiten Weltkriegs an der Entschlüsselung der deutschen Enigma-Maschine, der Enkel in der Gegenwart an der Idee, im Südpazifik einen Datenhafen aufzubauen, wo eine digitale Währung ausgegeben werden soll, frei von den Eingriffen irgendeiner Regierung. Und auch in „Diamond Age“ von 1996 geht es um nichts anderes, auch wenn die rein technische Ebene etwas in den Hintergrund rückt und das Moment des social engineerings, des Hackens sozialer Beziehungen, einen höheren Stellenwert hat.

Der Hacker in „Diamond Age“ ist Percival Hackworth, leitender Ingenieur bei einer großen Nanotech-Firma, und die weibliche Heldin ist Nell, ein kleines Mädchen aus der sozialen Unterschicht von Shanghai. Hackworth bekommt den Auftrag, die „Illustrierte Fibel für die junge Dame“ zu entwerfen, ein Supercomputer in Form eines Nanobuchs, mit dem ein Großindustrieller seine Enkeltochter erziehen möchte – ein Buch, das Mutter, Kindermädchen, Kindergarten und Schule ersetzen und das Mädchen zur Rebellin erziehen soll, die gerade weil sie sich mit ihrer Umgebung nicht anfreunden kann, zur Verbesserung der Welt beitragen soll. Ein Exemplar der Fibel fällt Nell in die Hände.

Aber nicht nur die Grundkonstellation verweist auf Stephensons Sozialisation zwischen Computern, Grunge, der Feindschaft gegen Makrostrukturen wie Großunternehmen oder Regierungsapparate und dem Abfeiern der Freiheit des Individuums – das gesamte polithistorische Konzept von Stephenson verhandelt nichts anderes.

Wenn es etwa in der Welt des späten 21. Jahrhunderts keine Staaten mehr gibt, weil sie an einem gewissen Punkt der technischen Entwicklung die Fähigkeit verloren, Steuern zu erheben. Dies führt nun aber nicht zum Zusammenbruch jeder Ordnung – im Gegenteil. So genannte Phyles bilden sich heraus, Gemeinschaften, die sich ein Regelwerk geben, demgemäß sie ihr Zusammenleben regeln. Und an die Stelle übergreifender Gesetze treten Protokolle. Das ist ein Gesellschaftsbild, das die Funktionsweise von großen Computernetzwerken auf das Soziale überträgt. Der mächtigste Phyle des Diamantenen Zeitalters sind die „Vickys“, Neoviktorianer, die mit ihren strengen Moralvorstellungen glauben, die Lehre aus dem verkommenen 20. Jahrhundert gezogen zu haben. Und die zwar die ganze Welt mit ihren nanotechnologischen Produkten versorgen, aber selbst auf Holzstühlen sitzen, die nicht aus dem Feeder kommen, und echten Tee trinken.

Und auf den Straßen, in der Gegend, die keinem Phyle gehört, die zwar kein rechtsfreier Raum ist, aber von keinem eindeutigen Regelwerk geordnet wird, dort werden die interessanten Produkte der Unterhaltungsindustrie hergestellt. Dort werden die Bilder von Freiheit und Zügellosigkeit produziert, in die man sich aus den Phyles heraus einloggen kann. Was heute als interaktives Computerspiel mit der Konsole als Netzzugang in Rudimenten schon existiert, denkt Stephenson weiter. Filme gibt es nicht mehr – nur Liebhaber schauen sich noch alte „Passive“ an – stattdessen gibt es die Raktiven. Interaktive Rollenspiele, wo Schauspieler und Kunden gemeinsam in bestimmte Szenarien versetzt werden und wo die Schauspieler multipel einsetzbar sind, da sie nanotechnologisch bearbeitete Ganzkörpertätowierungen haben, die es ihnen ermöglichen, fast jede Rolle zu übernehmen.

Gerade die Tatsache, als Computerfrickler an einer US-amerikanischen Universität der Achtziger ein Kind einer der mächtigsten Umwälzungen der letzten Jahre gewesen zu sein, die Zukunft schon gekannt zu haben, als sie noch ganz klein war, und vielleicht schon an sich glaubte, aber noch nichts von ihrer Macht wusste – gerade das prädestiniert Stephenson dazu, im eigentlichen Sinne Popliteratur zu schreiben. Hier trifft anglo-amerikanischer Kulturimperialismus auf Alltagserfahrungen und auf den Glauben an das Morgen im Heute, drängt dann als Massenprodukt auf den Markt und wird wegen all dieser Merkmale vom Feuilleton nicht wahrgenommen. Dafür wird es sowohl in der Microsoft-Chefetage gelesen, von den Leitern des Massachussets Institute for Technology, aber auch von Hackern jeglicher Couleur oder von denen, die bei irgendwelchen Internet-Buchhändlern stupide Eingabe-Jobs machen müssen. Außerdem noch von Links-Perry-Rhodisten, der Kittler-Jugend, Linux-Programmierern und postautonomen Abhörparanoikern.

Neal Stephenson: „Diamond Age – Die Grenzwelt“. Blanvalet Verlag, München, 578 S., 17,80 DM