piwik no script img

Die nahe und doch so fremde Stadt

Kaum mehr als 100 Kilometer trennen Berlin vom polnischen Szczecin. Während sich die 420.000 Einwohner zählende Hafenstadt an der Oder in Richtung deutsche Hauptstadt orientiert, verfolgen die Berliner ihre eigenen Interessen

von UWE RADA

Einst zeugte der Bismarckturm von der Größe des deutschen Reiches. Wuchtig und weithin sichtbar stand er auf einem der zahlreichen Hügel am Stettiner Oderufer. Dort steht er, inzwischen polnisch geworden, heute noch. Nun aber soll die „Wieża Gocławska“ in der Ulica Narciarska 5a verkauft werden. Die Stadtverwaltung von Szczecin hat kein Geld für die Sanierung des Turmes. In einer doppelseitigen und deutschsprachigen Anzeige im in Berlin erscheinenden Kurier Berlinski wendet sie sich ausdrücklich an deutsche Investoren. Wird der Bismarckturm nun wieder deutsch?

„Szczecin zawsze Polski“ – „Stettin für immer polnisch“: Solche Schilder standen lange auf den Zufahrtstraßen in die Oderstadt. Und auch Marian Jurczyk, einst „Held der Solidarność“, verdankte seinen Wahlsieg als Oberbürgermeister solchen Parolen. Doch deren Wirkkraft beginnt zu bröckeln. Die Beteiligung deutscher Investoren an Stettiner Unternehmen nimmt man mehr und mehr mit Humor. Als unlängst Bitburger die Stettiner Brauerei Bosman kaufte, witzelte man in der polnischen Presse, dass die polnische Brauerei nun den Deutschen gehöre und die deutsche einem Polen. Der Grund: Der Firmenchef von Bitburger ist selbst polnischer Abstimmung.

Im Februar dieses Jahres geschah allerdings selbst für Stettiner Verhältnisse Ungeheuerliches. 3.415 Leser beteiligten sich an einem Aufruf der linksliberalen Gazeta Wyborcza, den „Stettiner des Jahrhunderts“ zu wählen. Gewonnen hat mit Piotr Zaremba zwar der erste polnische Stadtpräsident der Nachkriegszeit. Doch auf den Plätzen zwei und drei folgten mit Hermann Haken und Friedrich Ackermann zwei Deutsche, beide ehemalige Oberbürgermeister des preußischen Stettin, der eine von 1878 bis 1907, der andere von 1907 bis 1931. Marian Jurczyk, der „Held der Solidarność“, kam nur auf Platz 15.

Die beliebten Deutschen

Kaum war das Ergebnis bekannt geworden, begann die Zeit der Motivforscher, wurde die polnische Seelenlage durchleuchtet und die der Deutschen gleich dazu. „Ungefährliche Deutsche“, lautete der Versuch, den Überraschungscoup von Haken und Ackermann zu erklären. Andere verwiesen auf die Wały Chrobrego, die „Hakenterrassen“, die der Zweitplazierte am Oderufer hat bauen lassen und die neben der von dem Berliner James Hobrecht angelegten Gründerzeitstadt um den Plac Grunwaldzki oder dem postmodernen Wiederaufbau der Altstadt heute zu wenigen Sehenswürdigkeiten von Szczecin gehören.

Doch die Würdigung einer deutschen, vorfaschistischen Vergangenheit durch polnische „Repatrianten“ und ihrer Nachkommen verweist nicht nur auf die Identifikation der Neu-Szczeciner mit der ihr fremden Stadt und auf die Normalisierung des polnisch-deutschen Verhältnisses.

Sie ist, ungewollt oder nicht, auch ein Hinweis auf die Zukunft von Szczecin. Jahrzehntelang als Grenzstadt zur DDR durch die Warschauer Zentralregierung vernachlässigt und wirtschaftlich längst von Poznań, Gdańsk und Wrocław überholt, bleibt der 420.000-Einwohner-Stadt nichts anderes übrig, als die Orientierung nach Deutschland. Vor allem der Hafen, „Polens Tor zu Welt“, sucht deshalb auch den Anschluss nach Berlin, zum Beispiel Ende November, wenn die Stettiner Hafengesellschaft in der deutschen Hauptstadt auf Promotion-Tour geht.

Dazu hat sie auch allen Grund. Anders als die „Stocznia Szczecinska“, die Stettiner Werft, die sich mit ihren 12.000 Beschäftigten in den vergangenen zehn Jahren zum größten Schiffsbauer im Ostseeraum gemausert hat, dümpelt der Stettiner Hafen vor sich hin. Vor allem der Rückgang der Fördermengen in den polnischen Kohlegebieten hat der Gesellschaft zu schaffen gemacht. 1999 verzeichnete der Hafen den schlechtesten Umsatz seit Jahren. Von den anvisierten 6,5 Millionen Tonnen konnten lediglich 1,2 Millionen Tonnen umgeschlagen werden. Die Folgen: Die Löhne wurden verspätet ausgezahlt, die Reparaturarbeiten an den veralteten Löschanlagen eingestellt. Noch schlechter sah die Bilanz im Hafen von Świnoujście aus. Während dort 1997 noch 6,55 Millionen Tonnen umgeschlagen wurden, war es zwei Jahre später nur noch ein Fünftel davon.

Berliner Tor zur Ostsee

Angesichts der dramatischen Lage besinnt man sich im Szczeciner Hafen wieder auf die Nähe zur nur 120 Kilometer entfernten deutschen Hauptstadt. „Stettin war immer Berlins Tor zu Ostsee und will es jetzt wieder sein“, gibt sich der Entwicklungsmanager des Stettiner Hafens, Bartlomiej Grygorowicz, optimistisch. Vor allem die Verbindung zwischen Berlin und dem skandinavischen Raum sowie nach Russland hat der Hafenmanager im Sinn. „Wenn wir wenigstens einen Teil der bisherigen Lkw-Transporte auf das Wasser brächten, wären sowohl die deutschen als auch die polnischen Straßen entlastet“, sagt Grygorowicz der Märkischen Oderzeitung.

Einen entsprechenden Kooperationsvertrag haben beide Hafengesellschaften bereits im Juni 1999 geschlossen. „Damit“, so sagte der Berliner Wirtschaftsstaatssekretär Dieter Ernst, „besinnt sich die Hauptstadt wieder auf ihre früheren Verkehrsverbindungen nach Osteuropa.“ Stettin, so Ernst, sei der nächste Ostseehafen für Berlin und liege weitaus günstiger als etwa Rostock oder Hamburg. Dass allerdings die anvisierte Umschlagszahl von 10,5 Millionen Tonnen im Jahr 2010 reichlich Zukunftsmusik ist, zeigt die gegenwärtige Auslastung der Wasserstrecke über die Oder und das Stettiner Haff bis in den polnischen Ostseehafen Świnoujście: Bislang werden dort lediglich finnisches Papier in Richtung Berlin sowie Eisenerze für das EKO in Eisenhüttenstadt transportiert. Zu wenig für ein wirkliches „Tor zur Ostsee“ – sowohl für die Polen als auch für die Berliner.

Der gesparte Konsul

In Berlin hat man allerdings, allen Beteuerungen des Wirtschaftsstaatssekretärs zum Trotz, andere Blickrichtungen eingeübt. Sie reichen in den Osten, wenn überhaupt, in Richtung Poznań, Warschau und Moskau, in Richtung Prag oder Budapest. Szczecin kommt in diesen Blickbeziehungen allenfalls am Rande vor. Nicht nur bei der Bahn, die nur noch eine direkte „Tagesrandverbindung“ aufrechterhält und selbst die Züge nach Swinemünde eingestellt hat, sondern auch bei der Berliner Wirtschaft. Zwar gibt es über 1.000 Stettiner Unternehmen mit deutscher Beteiligung. Doch die Tochtergesellschaft der Berliner Außenhandelsgesellschaft BAO hat ihren Sitz nicht im nahe gelegenen Stettin, sondern im 270 Kilometer entfernten Posen. Schließlich ist Poznań mit über 30 internationalen Messen im Jahr ein wichtiger Umschlagplatz für Waren aus der deutschen Hauptstadt.

Als „Asymmetrie der Interessen“ hat der Leiter des „Collegium Polonicum“ in Słubice, Krzysztof Wojciechowski, das Verhältnis von Deutschen und Polen einmal genannt. Wie sehr dieser Befund auch für das ungleiche Verhältnis zwischen Berlin und Szczecin zutrifft, musste selbst Klaus Ranner erfahren. Bis vor kurzem war der in Polen äußerst beliebte Diplomat deutscher Konsul in Stettin. Dann freilich fiel sein Konsulat, in dem vor allem Geschäftsleute Kontakte untereinander knüpften, dem Sparkurs von Bundesaußenminister Joschka Fischer zum Opfer. Sämtliche Proteste, allen voran von Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Harald Ringstorff, blieben erfolglos. Selbst ein Schreiben der Stettiner Stadtverordneten an Fischer, in dem diese forderten, dass „unser Konsul bleibt“, blieb ohne Gehör.

Ranner, der es in Stettin fast schon zu ähnlicher Beliebtheit gebracht hat wie die früheren Stadtoberhäupter Haken und Ackermann, blieb am Ende nur noch die achselzuckende Bemerkung: „Als vor zwei Jahren die Russen abzogen, gab es nicht solche Reaktionen.“ Die Kontakte zwischen den Wirtschaftsleuten soll nun ein Haus der Wirtschaft herstellen, das die Industrie- und Handelskammer in Szczecin gründen möchte.

Über diese Schieflage konnte auch die Präsentation der Berliner Wirtschaft mit dem Titel „Go West – Go Berlin“ nicht hinwegtäuschen, die am 7. November in Szczecin stattfand. Hinter vorgehaltener Hand gab man in der Berliner Delegation sogar zu, dass man lange überlegt habe, ob man eine solche Präsentation, wie sie inzwischen schon zweimal in Warschau und Posen stattgefunden hat, überhaupt in Stettin abhalten sollte. Dass man es schließlich doch getan hat, lag daran, dass es nicht so sehr darum ging, die Berliner Wirtschaft für Stettin zu interessieren, sondern die Stettiner Firmen für das „Neue Berlin“. Wenn es um Konjunkturspritzen der auf „Nullwachstum“ gesetzten Berliner Wirtschaft geht, sind den Wirtschaftsförderern auch Niederlassungen Stettiner Firmen willkommen. Vielleicht steht auf der Ruine des Brau-und-Brunnen-Geländes am Bahnhof Zoo ja vielleicht einmal die Deutschland-Zentrale von Bittburger/Bosman.

Stettiner Problembilder

Der neuesten Ausgabe des Kurier Berlinski liegt wieder eine Anzeige bei. Kein preußisches Bauwerk steht diesmal zum Verkauf, sondern mehrere Eigentumswohnungen im Ostseebad Swinemünde. Gerade an der Küste, zwischen Świnoujście und Międzyzdroje, aber auch auf der östlichen Seite des Stettiner Haffs boomt das Geschäft mit den deutschen Touristen ebenso wie der Bau von postmodernen Siedlungen. Fast die Hälfte aller Bewohner der Neubaugebiete sind inzwischen Deutsche, und dies, obwohl der Erwerb von Wohneigentum und Grundstücken zur nichtgewerblichen Nutzung an Nicht-Polen ausdrücklich untersagt ist.

Die Furcht vieler Polen vor einem „Ausverkauf“ findet aber auch in Szeczecin immer wieder Nahrung. Für Aufsehen sorgten 1996 die Ermittlungen der Stettiner Staatsanwaltschaft gegen einen deutschen Unternehmer, der mit Hilfe polnischer Strohmänner illegale Landkäufe vermittelt haben soll. Die angeblich gegründeten Joint Ventures, so der Vorwurf, seien nur ein Vorwand gewesen, um billig polnisches Ackerland zu kaufen oder zu pachten.

Gerade in Stettin, dessen Wirtschaft vorwiegend agrarisch oder von der Wasserwirtschaft geprägt ist, wirft der bevorstehende EU-Beitritt Polens auch seine Schatten voraus. Entlang der Aleja Niepodległosci, der Allee der Unabhängigkeit, haben Dutzende alter Leute ihre Habseligkeiten ausgebreitet: hier ein paar Zwiebeln, dort ein paar Kartoffeln, Salatköpfe. Solche Bilder waren es, die auch 60 Fotografen festhielten, die im letzten Jahr einem Aufruf der Szczeciner Fotografengesellschaft gefolgt waren. „24 godziny z życia Szczecina“ – „24 Stunden aus dem Leben von Stettin“ hieß ein Wettbewerb, der vor allem den Stettiner Alltag zum Thema hatte.

Ein überaus trister Alltag, wie die Arbeiten zeigen. Hooligans, verfallene Gebäude, betrunkene Alte oder Müll auf den Straßen waren die vorherrschenden Motive des Wettbewerbs, dessen Ergebnisse im Herbst 1999 auch in Berlin-Kreuzberg, der Partnergemeinde von Szczecin, gezeigt wurden. Für den grünen Kreuzberger Bürgermeister Franz Schulz war das ein Hinweis darauf, „wie sehr sich doch die Probleme und Herausforderungen beider Städte ähnlich sind“.

Doch das Interesse der Kreuzberger war gering, auf der Vernissage trafen sich vor allem junge polnische Berliner. Szczecin, das ist und bleibt eine fremde Nachbarstadt. Der ehemalige Bismarckturm wird wohl noch eine Weile Wieża Gocławska heißen und polnisch bleiben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen