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Das Drama des begabten Sohnes

Der Orientexperte Edward W. Said hat brillante Erinnerungen verfasst. Seine politischen Schriften und sein Einsatz für Palästina bleiben fast unerwähnt

von ELKE SCHMITTER

Von Philip Roth gibt es einen Roman mit dem Titel „Mein Leben als Sohn“, in dem es vor allem um seinen Vater geht. Dieser Titel hätte auch zu den Erinnerungen des Literaturwissenschaftlers Edward W. Said gepasst. Dessen Selbstporträt beschränkt sich beinahe vollständig auf sein Leben als Sohn, und es geht vor allem um seinen Vater, seine Mutter und ihn – ein enges, neurotisches Dreieck voller Verstrickungen, aus denen der Held keinen Ausweg sucht und seine Leser keinen finden.

Das muss den Wert dieses Buches nicht mindern. Aber wer womöglich erwartet, etwas über Edward W. Said zu erfahren – den Professor an der Columbia-Universität New York, den Autor viel rezipierter Bücher über „Kultur und Imperialismus“ und den Orient, den berühmten Verfechter schließlich der Interessen der Palästinenser –, der wird enttäuscht. Von wenigen Andeutungen abgesehen, erfahren wir nicht, wie aus dem Kind, das sein Autor beschreibt, der Intellektuelle geworden ist, wegen dessen Verdiensten sein Buch ein weltweites Publikum findet.

Das ist kein Wunder. Denn die Wucht, die Intensität dieser Selbstbeschreibung liegt eben in der Identifikation ihres Autors mit dem Kind, das sein Bild von sich selbst offenbar stärker bestimmt als die beinahe fünfzig Jahre, die er als Erwachsener verlebt hat. Es ist das eindringliche Porträt einer verlorenen, gequälten Seele, das Drama eines begabten Kindes, eines Opfers sinnloser Ab- und Zurichtungen – und wohl auch der Bericht eines Sohnes, der sich am Rande des Todes wähnt (Said leidet an Leukämie, was den Anlass zu seinem Buch gegeben hat) und in einer großen Anklage- wie Rechtfertigungsschrift noch einmal zu den toten Eltern spricht.

Said ist ein wunderbarer Stilist. Da er sich mit Interpretationen seines Lebens aufs äußerste zurückhält – so sehr, dass man sagen kann, der imponierende Leser Said sei keineswegs ein großer Leser seiner selbst –, ist dies das einzige Merkmal des Buchs, aus dem man seine Passion und Profession erahnen kann. Die Musikalität seiner Sprache, die Eleganz seiner Sätze hat Meinhard Büning hervorragend ins Deutsche übertragen und damit eine wesentliche Qualität dieser Erinnerungen bewahrt.

Edward W. Said wurde 1935 während eines Familienbesuchs seiner Eltern in Jerusalem geboren. Seine Eltern lebten eigentlich in Kairo; der Vater, ein palästinensischer Christ mit amerikanischem Pass, hatte dort ein ausgedehntes, bald das größte Geschäft und Handelszentrum der Region für Büro- und Schreibwaren. Trotz beträchtlicher Mittel und eines luxuriösen Lebensstils gelang es der Familie nicht, in Kairo zu der Gesellschaftsklasse vorzudringen, der sie ökonomisch zugehörte. Palästinenser, auch wenn sie keine Flüchtlinge waren und – wie Saids Mutter – aus einer alten und tonangebenden Familie kamen, waren in Kairo gelitten, aber nicht erwünscht. Man lebte recht isoliert in einer verwirrend komplizierten Welt: Mal wurde Arabisch (in seinen durchaus verschiedenen Formen), mal Englisch oder Französisch gesprochen. Koloniale Prachtentfaltung, imperiale Ideologie, politische Spannungen und schließlich das Versinken einer alten Kultur bildeten eine subtil bedrohliche Kulisse. Diese Umstände leisteten einer Bereitschaft zur Paranoia, wie sie Saids Eltern wohl mitbrachten, energisch Vorschub. „Schule, Kirche, Sportclubs, Garten, Haus – ein eingeschränktes, sorgfältig umgrenztes Segment der großen Stadt: Das war meine Welt. Nie durfte ich Orte öffentlicher Zerstreuung oder Restaurants besuchen, geschweige denn frequentieren. Und immer wieder ermahnten mich meine Eltern, Menschen im Bus oder in der Straßenbahn nicht zu nahe zu kommen, nichts in einem Laden oder an einem Stand zu essen oder zu trinken und vor allem unser Heim und unsere Familie als einzige Zuflucht vor dem riesigen Sündenpfuhl um uns herum zu begreifen.“

Das Regime der Eltern war schrankenlos. Saids temperamentvolle Mutter beherrschte das Zuhause mit ausgeprägten Launen, bemerkenswerten manipulativen Fähigkeiten und paradoxen Wünschen, die Edward das Gefühl gaben, ein bedauernswerter Prinz zu sein: hochbegabt, aber unzuverlässig, schwer erziehbar, ungenügend in fast jeder Hinsicht, aber doch das Ziel von Hoffnung und Liebe. Der Vater, ein Patriarch in offenbar düsterstem Sinne, schweigsam und autoritär, unbeholfen noch in seiner Zuneigung, brachte dem einzigen Sohn wenig Verständnis, aber rigide Erwartungen entgegen. Said beschreibt seine Kindheit und Jugend als ein Gleichgewicht des Schreckens, das aus individuellen neurotischen Konstellationen ebenso wie aus den Erziehungsmethoden jener Zeit gehämmert ist. Über die weiteren Umstände berichtet er eher beiläufig und sehr lebendig: Die Atmosphäre der arabischen Welt im Kairo, im Libanon und im Palästina der Dreißiger- und Vierzigerjahre ist ein inspirierendes Nebenthema seiner Erzählung.

Der Verlust Palästinas hinterließ in seiner Familie eine Lücke – im Bewusstsein. Said analysiert die politische Neutralität seiner Eltern als Verdrängungsleistung einer Entwurzelung, die sie nicht direkt, aber indirekt betraf: Immer neue Flüchtlinge aus dem Familienkreis trafen in Kairo ein, wurden provisorisch betreut und fristeten von nun an eine Existenz im Ungewissen. Sein eigenes politisches Erwachen fiel in die Zeit, als er schon lange nicht mehr im Nahen Osten lebte – er wurde von seinem Vater bereits als Oberschüler in die USA geschickt –, und ist in seinen Augen in der Verspätung auf diese familiäre (und durchaus typische) Tabuisierung zurückzuführen. Der unbetrauerte Verlust, die nie ausgesprochene Fremdheit, das Pariadasein und die geheime Furcht, jederzeit fortgeschickt werden zu können – das sind die Themen der Erinnerungen, bei denen Said sein persönliches Schicksal zu einem Modell entfaltet, konkret und manchmal überhöht.

Seine Opfergewissheit ist intensiv und hermetisch, nicht selten pathetisch und selbstgerecht. So entsteht beim Leser der Eindruck, der Autor Edward W. Said sei auf dem Weg zu sich selbst auf halber Strecke stehen geblieben: Er nimmt das Kind, das er einmal war, mit Liebe und Empfindsamkeit und mit großer Beobachtungsschärfe wahr. Für den Erwachsenen Said, für dessen Urteilsvermögen und Intelligenz, ist wenig Platz.

Edward W. Said: „Am falschen Ort. Autobiografie“. Übersetzt v. Meinhard Büning. Berlin Verlag, 470 S., 48 DM

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