: Brennendes Verlangen
Eine seltsame kulinarische Vorliebe fasziniert Gourmets: Kerzen essen
Plötzlich steigt wieder dieses brennende Verlangen in mir auf, und die Gier wächst. Die Gier, mir etwas in den Mund zu schieben, was dort eigentlich nichts verloren hat. Etwas extrem Ungesundes. Keine Zigarette. Keine Zigarre. Keine Pfeife. Kein Joint. Ich will eine Kerze essen!
Genau genommen: meine erste Kerze. Jungfräulich steht sie da in ihrem Kerzenhalter vor mir auf dem Tisch. Weiß. Kein Wachs. Hundert Prozent Talg. Zum Reinbeißen. Zum Reinbeißen?
Angefangen hat meine gefährliche Neugierde mit einem am Nebentisch belauschten Gespräch. Da saß ein junger Mann, Mitte zwanzig, und beichtete seiner Freundin. Krank sah er aus. Lange druckste er herum. Sprach leise: „Ich muss dir etwas sagen.“ Die Kellnerin brachte neue Getränke. Ich hatte schon Angst, den interessanten Part zu verpassen. Er war gerade mitten im Bekenntnis. „Und dann zerkaue ich sie. Natürlich ohne Docht. Das ist ein Geschmackserlebnis, das kannst du dir nicht vorstellen. Es schmeckt einfach geil. Besser als alles, was ich in meinem ganzen Leben vorher gegessen habe.“ Die Freundin war besorgt und angewidert: „Kerzen? Spinnst du? Das ist doch nicht gesund.“ Vor den beiden brannte die Tischkerze nieder, versonnen betrachtete der junge Mann die dünne Rauchsäule, die nach dem letzten Verglimmen in Richtung Decke aufstieg. Die Kellnerin brachte eine neue. Als sie zum Anzünden ansetzte, streckte der Kerzenliebhaber spontan seine Hand danach aus: „Danke, das machen wir selbst.“ Die Freundin hatte genug gesehen. Wortlos erhob sie sich und verließ das Lokal. Ich setzte mich zu dem Verlassenen.
Das Kerzenessen hat in Deutschland keine lange Tradition. Eigentlich ist es völlig unbekannt. Vielfach kommen die Menschen gar nicht auf den Gedanken, das Naheliegende einfach einmal auszuprobieren. Dabei wäre es so einfach und bequem: Kerzen gibt es in jedem Haushalt. Wenn nicht, sind sie in jedem Supermarkt günstig zu erwerben. Es ist das ideale Genussmittel, vom Gesetzgeber im Verkauf nicht eingeschränkt oder mit teuren Luxussteuern belegt.
Der einzige Beleg des Kerzenverzehrs im jüngeren kulturellen Diskurs stammt aus der Fernsehserie „Die Simpsons“. Homer Simpson möchte um jeden Preis eine Chili-con-Carne-Geschmacksprobe durchstehen. Weil Polizeichef Chief Wiggum seine Speise mit Chilischoten anreichert, die von den Insassen einer guatemaltekischen Irrenanstalt gezüchtet sind und eine irrwitzige Schärfe entfalten, droht Homer zunächst zu scheitern. Kurzerhand trink er das heiße Wachs einer Kerze in einem Zug aus. Speiseröhre und Magen sind somit imprägniert; ohne Schaden anzurichten, kann die scharfe Speise ihren Weg direkt in Homers Gedärm nehmen. Er wird daraufhin prompt verrückt. Aber nur eine Folge lang.
Frühere Hinweise auf den Genuss von Kerzen finden sich bei dem Barockdichter Andreas Gryphius. Überwältigt von den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges, verfasste dieser sein berühmtes „Memento mori“-Werk „Was ist mein Mund? Ein Wohnhaus langer Kerzen.“ Unter Germanisten ist die Authentizität des Zweizeilers allerdings heftig umstritten.
Das Kerzenessen, so erzählte mir mein frisch gewonnener Bekannter, habe zwar unerhörte geschmackliche Vorteile. Tatsächlich leide jedoch die Gesundheit unter der ungewöhnlichen Vorliebe: „Ich habe Magengeschwüre. Nach zwei Kerzen muss ich mich übergeben. Der Nährwert ist auch nicht besonders hoch. Dazu kommt die soziale Ächtung. Wenn meine Freunde gemeinsam essen gehen, dann fragen sie mich schon gar nicht mehr, ob ich mitkommen möchte. Wer will schon jemanden dabei haben, der zum Dessert die Tischdekoration verspeist?“ Einsam sei er nun, sehr einsam.
Dann zog er die vor dem Feuerzeug der Kellnerin gerette Kerze hervor und machte sich daran, sie in kleine Scheiben aufzuschneiden, wobei er den Docht sorgsam aussparte. Ein daumendickes Stück schob er sich sofort in den Mund und lutschte genüsslich daran. Ob ich nicht auch mal probieren wolle? Es sei noch genug da.
Freundlich, aber bestimmt lehnte ich ab. Ich wollte nicht. Noch nicht. An diesem Abend war ich noch nicht so weit. Doch der Anblick des genussvoll Kerzenverzehrenden lässt mich seither nicht mehr los. Man könnte doch wenigstens mal probieren... nur einmal... nur ein winziges Stück... köstlich. STEFAN KUZMANY
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