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Mrs. Brindle sucht den Gluck

Die Schottin A. L. Kennedy beäugt in „Gleißendes Glück“ Seelenverwandtschaftenund sonnige Obsessionen. Eine gelassene Ballade von der sexuellen Hörigkeit

Es gibt Fragen, die man nicht zu stellen, und Träume, die man nicht zu verwirklichen wagt. Damit lässt sich alt und glücklich werden. Doch manchmal tauchen groteske, hässliche, auch gefährliche Symptome dieser Unterlassungen auf, die es zu verbergen oder zu bestrafen gilt. Neurosen, im Jargon der Psychoanalyse: von Freud ins Spiel gebracht als Seelenkrankheit jener Bourgeoisie, die hundert Jahre später weit eher unter Depressionen als Wiederholungszwängen zu leiden scheint.

Edward E. Glucks Symptom hat die Gestalt eines Extrazimmers voll pornografischer Materialien sowie einer Onaniefrequenz von sechs Sitzungen pro Tag. Kaum weiter komisch, wäre Edward nicht habilitierter Seelenkundler, fernsehkompatibler Charismatiker und bestsellender Glücksverheißer. Dass der umlautlose Gluck ein Genie ist, bestreitet niemand, am wenigsten er selbst. Schließlich propagieren seine kybernetisch inspirierten Essays die Fähigkeit jedes Einzelnen, sich selbst und seine Träume zu verwirklichen, sie durch den Prozess des Imaginierens mit der Realität verschalten und in selbige überführen zu können. Der Nobelpreis winkt.

Diesen sonnigen Intellektuellen mit peinlichem heimlichem Hobby hat die junge schottische Autorin A. L. Kennedy erfunden, um ihn in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman, „Gleißendes Glück“, der eigentlichen Hauptperson, der Pasteten backenden Hausfrau „Mrs.“ Helen Brindle gegenüberzustellen. Die fristet ihr Dasein, obschon vom gleichen intellektuellen Schlage, am anderen Ende der Möglichkeiten. Schlaflos, da verheiratet mit einem jähzornig prügelnden Mr. Brindle, den sie bislang stoisch ertrug, leidet sie unter dem schlimmsten Verrat ihres Lebens: Gott hat sich ihr entzogen. Und da, wie man nach und nach zu ahnen beginnt, der Allmächtige in ihrem Fall auch als Metapher für Körperlust fungiert, schmerzt sein Verlust besonders heftig. Als Helen Professor Gluck beim nächtlichen Fernsehen entdeckt, folgt sie seinen Maximen und bricht aus. Sie reist ihm zu einem Kongress nach ausgerechnet Stuttgart hinterher, die beiden treffen sich in der Hotellobby, dann bei schlechtem Tanztheater, sie fragt ihn um Rat, er offenbart ihr seine Obsession und wie sehr er darunter leidet. Sie verlieben sich ineinander und rühren sich nicht an.

Mit einem forschen „Sorgt euch nicht, lebt!“ könnte man Helen und Edward bald verabschieden, wenn A. L. Kennedy ihre Konstruktion nicht mit so viel Poesie, intelligenter Doppelbödigkeit und feinem Lächeln erzählen würde, wenn sie die Netze der Spannung mit weniger Raffinesse geknüpft hätte. Wird Helen ihrem Gluck auf den Leim gehen? Wird sie auf höherem Niveau als daheim im schottischen Hochland, vom seelenverwandten Wiederholungszwang befeuert, erneut einem sadistischen Sexmaniac zum Opfer fallen, womöglich Spaß daran finden?

Das Buch kriecht in den sympathischen Kopf von Mrs. Brindle, schlägt sich insofern auf ihre Seite, beäugt von dort aus sich, das Begehren und die Welt mit einer analytischen Gelassenheit, die höflich und mutig genug ist, zwiespältige Gefühle und zärtliche Zwischentöne mit warmem Staunen zum Leuchten zu bringen. Es verzichtet darauf, Urteile zu fällen, skizziert die komplexe Gleichzeitigkeit von Täterschaft und Opfertum, ohne alle Leerstellen zu füllen, und braucht fast keine Dekorationen und Oberflächen, um das Drama in den Köpfen plausibel zu machen.

Helen kehrt zurück zu Mr. Brindle, flieht erneut, diesmal in Glucks Londoner Wohnung. Dort bittet Edward sie darum, ihre Schamhaare rasieren zu dürfen. Die Rasur wird zur Schlüsselszene, von Kennedy in äußerster Behutsamkeit geschildert als psychoerotische Gratwanderung zwischen Angst und Vertrauen, Wissbegierde und Hilflosigkeit. Und Helen stürzt. Allerdings nicht bei Edward, sondern vor ihrem Mann, der angesichts ihrer nicht länger verhüllten Scham Amok läuft.

Danach gönnt Kennedy nicht den Neurosen, wohl aber der Liebe ein gleißendes Happy End. Vielleicht hat sie damit den kybernetischen Zirkel entdeckt. Oder konnte sich einfach nicht verkneifen, die beiden nach Wochen des verzweifelten Umeinanderherschleichens, der therapeutisch-liebevollen Annäherung zu happy, friendly Sex in ein Bett zu stecken und sich selbst und dem Leser gehörige Erleichterung zu verschaffen. Man staunt und glaubt das Wunder nicht so recht. Von Gott ist am Ende gleichwohl keine Rede mehr. EVA BEHRENDT

A. L. Kennedy: „Gleißendes Glück“.Aus dem Englischen von Ingo Herzke.Wagenbach Verlag, Berlin 2000,187 Seiten, 34 DM

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