: Bass, Terror und dicke Plattensammlung
Ordentlich Löcher in die Köpfe hauen, ohne gleich die Revolution auszurufen: Das französische Breakcore-Label Peace Off stellt sich im Maria am Ostbahnhof vor
1992 im Bunker war ein prägender Zeitabschnitt für die Berliner Hardcore-Techno/Gabba-Gemeinde. Hier wurde Geschichte geschrieben. In den niedrigen, verwinkelten Räumen der Baracke setzte einem die klamme Luft besonders hart zu. Das Stroboskop ballerte mit 280 bpm ins Unterbewusstsein der Gabbaheads, deren Psyche sich widerstandslos dem „Flicker-Effekt“ hingab: Die Extremitäten zuckten willenlos in der brutalen Stalinorgel der Lichtanlage.
Sich mal wieder richtig die Sinne töten lassen, am besten jedes Wochenende. Und als Gabba irgendwann zu langweilig wurde, erfanden sie einfach „Speedcore“. Aber schon Mitte der 90er-Jahre hatte sich die Bass-Terror-Crew aus dem Digital-Hardcore-Umfeld eine kleine Nische im Bunker eingerichtet: Sie kombinierten die formalistisch-strenge [4]/4-Bassdrum des Gabba mit Breakbeats und Noise und schufen damit eine avanciertere Form des holländischen Schlag-tot-Technos.
Digital Hardcore Rec. wurde später bekanntermaßen ein Rock-’n’-Roll-Label, sehr zum Verdruss seiner Fans, die sich noch die eine oder andere Innovation erhofft hatten. Die qualitativen Sprünge in einer in ihren Möglichkeiten limitierten Musik wie „Breakcore“ sind denkbar klein, will man sich nicht allein mit einer ordentlichen Kopfwäsche zufrieden geben.
Es bedarf schon einer gewissen Offenheit, die engen Grenzen zu überwinden und dem Genre frische Impulse zuzuführen. Jazz hilft da auf jeden Fall, Dancehall und HipHop können auch nicht schaden. Will man sich als ganz ausgefuchster Produzent beweisen, hat man allerdings auch seinen Ligeti, Stockhausen oder Cage gelernt.
Was hier jetzt erst einmal nach dicker Plattensammlung klingt, ist tatsächlich die ideale Voraussetzung für einige der derzeit besten Breakcore-Produzenten. In London arbeitet DJ Scud mit seinem Label Ambush an einem „high energy avantgardistic dancefloor“, während von Berlin aus Christoph Fringeli (Praxis) oder Christoph de Babalon (Crossfade Entertainment) die Symbiose aus abstrakter „Intelligent Dance Music“ (IDM) und konkretem Hard-/Breakcore zur Reife bringt. Aber auch in Frankreich tut sich einiges. Das Label Peace Off aus Rennes gehört zusammen mit Cavage (Paris) momentan zu den besten Breakcore-Labels Europas. Mit nur vier Veröffentlichungen haben sie innerhalb kürzester Zeit auch in der skeptischen IDM-Szene für Aufsehen gesorgt.
Mike Paradinas, zusammen mit Aphex Twin und Squarepusher die Ikone englischer Electronica, schwört auf die heilende Wirkung eines Peace-Off-Tracks zum Abschluss seiner DJ-Sets. Mit den ausgetüftelten Produktionen der Labels Warp und Ninja Tune kann sich die Peace-Off-Crew auch viel eher identifizieren als mit den aktuellen Veröffentlichungen im Hardcore-Bereich. „Ich investiere viel Arbeit in die Komposition meiner Tracks“, erzählt Sylvain Berahniche, der auf Peace Off unter dem Namen Kids Return produziert: „ ‚Riot sounds produce riots‘ hat für mich als Motto jeden Reiz verloren.“
Was nicht dagegen spricht, dass ihre Veröffentlichung ordentliche Löcher in den Kopf machen. Nicht umsonst können Kids Return, Slam und Rotator auf eine bewegte Vergangenheit in Noiserock- und Hardcore-Bands zurückblicken. Die Intensität ihres dynamischen Sound-Bollwerks entsteht durch die extrem verdichteten Strukturen ihrer Kompositionen.
Die Tracks bersten beinahe vor Informationen. Interessant wird es, wenn sie aus der [4]/4-Kickdrum nicht mehr ein funktionales Rhythmusgerüst errichten, sondern diese nur noch als fragmentiertes Sound-Pattern einsetzen. Diese Form von „experimentiellem Gabba“ ist fast schon Lounge-tauglich. Das breite Spektrum der Peace-Off-Crew gibt Anlass zur Hoffnung, dass bedingungslose Härte nicht gleichzeitig zu geistiger Verblödung führen muss.
ANDREAS BUSCHE
Kids Return, Slam, Rotator, Third Pole, XD401 DJs: 77, Kronos. Heute ab 21 Uhr, Maria am Ostbahnhof
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen