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Nichts für Stubenhocker

■ Beim FC St. Pauli wird der Ball nun vollends viereckig: Am Montag darf der Zweitligist live im TV kicken. Ein Besuch im Stadion am Millerntor hat jedoch einen besonderen Charme

Die Kicker des FC St. Pauli können zur Zeit so gut mit dem Ball, dass sie in dieser Saison erstmals live im Fernsehen vorspielen dürfen. In voller Länge wird der Heimkick des Zweitliga-Dritten gegen den FSV Mainz 05 am Montag (20.15 Uhr) beim Deutschen Sport Fernsehen (DSF) gezeigt. Doch wer zu Hause sitzt, verpasst das einzigartige Ambiente eines Millerntor-Besuchs. Die taz macht mit einigen Leuten bekannt, die vor, während und nach einem Spiel die Fans versorgen.

19.15 Uhr: Noch 60 Minuten bis Anstoß. Zehn-Mark-Scheine sind knapp. „Karten gibt es aber noch genug“, schmunzelt Marcus. Seit zwei Stunden läuft der Verkauf im kleinen Ticket-Container vor der Gegengeraden. „Jetzt wird es richtig stressig“, weiß der 28-jährige Sportstudent und bemüht zeitgleich den Taschenrechner: „Achtmal Nordkurve – macht 120 Mark.“ Wenn es richtig gut läuft, bringen allein er und seine beiden Kollegen etwa 400 Billetts unter die Fans. Die freuen sich: Ticket gesichert, jetzt beruhigt auf das Spiel einstimmen.

19.40 Uhr: In der Nordkurve drückt Rainer den Stadionbesuchern die aktuelle pauli in die Hand. Die meisten schätzen die Hintergrund-Infos vor dem Anpfiff, einige allerdings winken genervt ab. Dennoch: „Die Stadionzeitung hat an Akzeptanz gewonnen“, glaubt der 37-Jährige, der als einer von zwei Redaktionsleitern für das Heft verantwortlich ist. „Immer häufiger hören unsere Verteiler Lob von den Fans.“ Und die Gäste-Anhänger staunen: „Klasse, die sollten auch mal unsere Stadionzeitung kostenlos abgeben.“

20.30 Uhr: Tatsächlich reagieren einige der Zuschauer gereizt, wenn Timmy mit seinem Brezelkorb auch nur kurz die Sicht versperrt. „Weg da, du Schwachkopf!“ – Beleidigungen, die sich der 19-jährige Schüler während einer Partie des öfteren anhören muss. Einmal habe man ihm sogar eine Brezel aus dem Korb geklaut. „Der war ganz schnell weg“, erzählt er. „Mit dem schweren und sperrigen Korb hinterherzulaufen hätte aber sowieso nichts gebracht.“ Umsatz macht er trotzdem – manchmal über hundert Gebäckstücke pro Spiel.

21.05 Uhr: Melissa und Denise lehnen sich zurück. Während der Halbzeitpause haben die zwei Fan-artikel-Verkäuferinnen am Stand hinter der Südkurve nicht allzu viel zu tun. „Vor und nach dem Spiel ist das Interesse am größten“, erklärt die 25-jährige Melissa. Wegen des kalten Wetters seien zur Zeit Schals besonders gefragt. „Baby-Sachen, wie Schnuller, gehen aber auch gut“, sagt die 18-jährige Denise, die auch beruflich im Supermarkt hinter der Kasse sitzt. Der Fußball interessiert die beiden zwar weniger, aber „natürlich ist es toll, wenn Pauli gewinnt. Dann wird auch mehr gekauft.“

21.20 Uhr: Selbst fünf Minuten nach Wiederanpfiff ist das Gedränge am Bierstand hinter der Nordkurve noch groß. Jetzt müssen die Plastikbecher besonders schnell gefüllt werden: Thorsten schafft vier Bier in zehn Sekunden – in jeder Hand zwei Flaschen gleichzeitig. Seit acht Jahren bereits schenkt der 24-Jährige bei jedem Heimauftritt so richtig aus. Ein Spiel des FC hat er schon lange nicht mehr live gesehen. „Gar nicht so schlimm“, sagt Thorsten, „langweilig wird es hier nie.“ Schließlich kommt es nicht selten vor, dass Leute bis zu 24 Bier auf einmal ordern.

21.20 Uhr: „Wenn es ein Foul war, war es ein Foul“, murmelt Rainer, ohne den Blick vom Geschehen auf dem Rasen zu wenden. „Wer schießt den Elfer?“, fragt er und weiß es schon. Mit dem Finger immer auf den Aufstellungen der Teams behält er als Stadionsprecher den Überblick – seit 14 Jahren in seiner engen Kabine. Zumindest über Mikrofon hat jeder Pauli-Anhänger seine Stimme schon gehört, klärt sie doch stets über Tore, Einwechslungen und Ergebnisse anderer Spiele auf: „In der 53. Spielminute, Torschütze mit der Nummer 17: Ivaaaan...“

22.15 Uhr: Kein Spiel ohne dritte Halbzeit: Das Vereinsheim füllt sich und wird zum Treffpunkt vieler, die sich zuvor aus den Augen verloren hatten und nun aufwärmen wollen. Stimmung ist immer – was für eine, hängt von Sieg oder Niederlage ab. Die Nachspülzeit beginnt, Wirtin Brigitte und ihr Tresenteam haben alle Hände voll zu tun, das frisch gezapfte Bier gerecht zu verteilen. Die Fernseher laufen schon. Die gerade gesehene Partie muss jetzt noch via TV diskutiert werden – ein reines Vergnügen ist das nicht. Einer der Fans bringt es auf den Punkt: „Richtigen Fußball gibt es nur im Stadion. Das Fernsehen zeigt doch nur Werbung.“ Oliver Lück

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