: Die Zeit hat Löcher ins Zahnfleisch genagt
■ Neue dänische Lyrik: Pia Juul, Niels Lyngsö und Morten Söndergaard im Literaturhaus Von Petra Schellen
Man hat sich doch so schön eingerichtet in einer durchalphabetisierten Welt. Hat Sternen und Menschen Namen gegeben, sie in wohldefinierte Käfige zu sperren gesucht. Hat sich nach Kräften bemüht, die Welt in jenem Licht zu sehen, in das man sie doch so gern getaucht wüsste.
Und dann kommt einer wie der dänische Lyriker Morten Söndergaard und behauptet (wieder mal), die Milchstraße sei ein Sternenhaufen, dessen eigentliche Ordnung mit unserem Strukturierungswahn nichts zu tun habe. Und der sich allenfalls rudimentär in Worte fassen lasse: Wie Tropfen fallen in einem Söndergaard-Gedicht die Sterne vom Himmel, machen nichts mehr her auf dem weißen Erdenpapier und zeigen – als „Verschwindungsflüssigkeit“ – deutliche Auflö-sungstendenzen: Weil sich die Struktur dieser Dinge nicht durch Worte bändigen lässt, sondern einfach nur ist. Und weil sich nicht nur das All, sondern auch sämtliche irdische Erscheinungen der Benennung entziehen und wir uns vor der Natur permanent lächerlich machen durch unsere Sucht, sie nach unserem Bilde zu formen.
Von „Todgeweihten auf dem elektrischen Stuhl des Verstandes“ spricht der 1964 geborene Söndergaard, der heute mit seinen KollegInnen Pia Juul und Niels Lyngsö im Literaturhaus gastiert – und wenn er jetzt nicht Pragmatiker und Ratio-Fanatiker an den Hals kriegt, dann nur, weil er solch Süffisantes mit poetischen Wendungen garniert, in denen der Sonnenwind „die Tage rückwärts weht, über die Faltengebirge des Gehirns hinweg“.
„Seit 20 Jahren boomt in Dänemark die Lyrik“, berichtet der Übersetzer Peter Urban-Halle, der den heutigen Abend moderieren und die von Rainer Strecker auf deutsch gelesenen Texte kommentieren wird. „Bei den jungen Dichtern herrscht, nach den politisierten 70ern, ein reges Interesse auch am naturwissenschaftlichen Zugang zur Welt“ – der oft ins Paradoxon führt und immer Poetologisches einschließt: „Ich führe die Worte an der Hand heraus, eine Reihe dunkler und nervöser Tiere“, schreibt Söndergaard und mag ihnen gar nicht zu nahe treten aus Angst, sie gleich wieder zu verlieren.
Auffällig ist hier die Verwandtschaft mit dem 1968 geborenen Niels Lyngsö, dessen Worte, die „wie Echos lächeln und zusammenfallen“ wie verglühende Sterne oder Schneeflocken, die sich, sobald sie auf festen Boden treffen, auflösen, weil der freie Fall ihr Zweck war und nicht das Ankommen, weil das Wort als – auch musikalische – Schwingung intensiver existiert als in der Festlegung.
„Die jungen dänischen Lyriker sind bibelfester als die Deutschen“, sagt Urban-Halle. „Das heißt nicht, dass sie ständig in die Kirche rennen, aber biblische Geschichten und Namen gehören zum Repertoire und werden vom dänischen Publikum verstanden“ – wie die Paulus-Legende von Pia Juul, der dritten Autorin des heutigen Abends. Ihr Mund sei „trocken vom Lügen“, heißt es in einem ihrer Texte, in denen sie immer Poetisches und Profanes kombiniert: „Mir fällt vor allem auf, wie sich die Leute erlauben zu niesen. Ich lasse es über mein Gesicht hinspritzen, Spucke und Rotz. Den Samen sehe ich nicht, ich stehe nur an der Tür“, schreibt sie an einer Stelle. „Ich sage gefährlich für wunderbar“ heißt es woanders. „Etwas fällt durch die Dunkelheit und kracht gegen ein Gerüst“ – vielleicht auch gegen jenen Panzer, mit dem sich das Ich gegen Unwägbarkeiten aller Art gewappnet hat. Und den zu entfernen kann enorm bedrohlich sein, könnte man sich und sein Weltbild doch im Moment tief gründelnder Wahrnehmung ernsthaft selbst in Frage stellen müssen. Da lässt man das stabilisierende Gerüst doch lieber stehen. Oder hat jemand ernsthaft Lust, sich mit Pia Juul dem „Nieser eines Toten“ auszusetzen?
Lesung heute, 20 Uhr, Litera-turhaus
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