: Wie war das noch gleich?
■ Vergessen: die Geschichte tut es, Helmut Kohl tat es und der Durchschnittsbürger auch – die Ausstellung „Amnesia“ in der Weserburg erinnert uns an diese traurig-süße Wahrheit
Unter dem Motto „An entscheidender Stelle“ blickt das Museum Weserburg nun schon seit 1997 über den eigenen Tellerrand und lädt renommierte Kuratoren aus divergenten Weltenecken ein zum Komponieren einer Ausstellung. Nach Gästen aus Madrid und New York war nun der ehemalige Ostblock fällig. Anda Rottenberg ist Direktorin der Nationalgalerie für Gegenwartskunst in Warschau und kann als mehrmalige Bestückerin des polnischen Pavillons auf der Venedig-Biennale eine große Macht im Kunstmarkt für sich reklamieren. Umso erstaunlicher ihr leises, unmachermäßiges, verraucht-existentialistisches Auftreten bei der Ausstellungspräsentation hier in Bremen. In brüchigem Redefluss vagabundiert sie von Adams Ursünde über Ödipus' Ahnungslosigkeit zu Freud – irgendwie ein Mensch für die großen Fragen.
Vergessen und Erinnern ist ihr Thema, und nichts deutet darauf hin, dass Anda Rottenberg wüsste, wie sehr dieses Begriffspaar in Deutschland einen unangenehmen, ideologischen, auch phrasenhaften Beigeschmack entwickelt hat – bei der allzu staatstragenden Denkmalsdebatte oder Überlegungen zum Restaurieren des Alten Schlosses.
Wer nun glauben würde, eine Polin thematisierte unter dem Titel „Amnesia“ auch Auseinandersetzungen mit der Abschaffung des Ostblocks oder dem Verdrängen sozialistischer Utopien, liegt leider falsch. Geschichte allerdings kommt durchaus vor. So ist ein Modell zu sehen von dem jüngst eingeweihten Holocaust-Denkmal von Rachel Whiteread. Nachdem die 37-jährige Britin schon Negativabdrücke von ganzen Häusern oder von Berliner Wasserkesseln erstellt hat, entschied sie sich für ihr Projekt am Wiener Judenplatz für einen Kubus aus Bücherregalen. Dabei fehlen die Bücher, aber die Leerräume sind materialisiert: Ein Verweis auf die Bücher, die ermordete Juden nicht mehr schreiben und nicht mehr lesen konnten; oder auf die in Buch gegossenen Faschismustheorien, von denen der Holocaust umzingelt ist; oder auf unsere Kenntnislücken über das Geschehen im Zentrum des Grauens, etc., etc..
Christian Boltanski ist Sammler von Daseinsrelikten. Mal hievt er ein ganzes Fundbüro ins Museum, mal zeigt er Fotos von toten Schweizern, fast immer mit dem Gestus des ordnenden Inventarisierens, doch in der Masse des Bewahrten auf die noch größere Masse des Unbewahrbaren verweisend. Von ihm wählte Rottenberg gerade nicht eine dieser Readymade-Assemblagen. Seine Arbeit „Les Lits“ (Die Betten) zeigt Aluminiumwannen in grusligem Neonlicht, in denen eher Tod und chirurgisches oder psychopathisches Gemetzel vorstellbar sind als sanfter Schlaf. Und Tod ist sowohl die radikalste Variante des Vergessens als auch beliebter Gegenstand von Erinnerungsritualen mit Blümchen.
Dieses große historische und philosophische Erinnern und Vergessen, wo Tod, Holocaust und die großen Katastrophen nicht weit weg sind, ist auch thematisiert in den Arbeiten von Anselm Kiefer, Vadim Zakharov, Bruce Nauman. Kaum anwesend hingegen ist unser alltägliches, tägliches Vergessen – von Schlüsseln, Regenschirmen, Gesichtern, der einen lebenswichtigen Telefonnummer; Jenes klitzekleine Vergessen, vor dem wir uns so gruseln, dass Alzheimer mittlerweile den Krebs als gefürchtetste Krankheit abgelöst hat, und Videokameras uns dabei helfen müssen, flüssiges Leben in feste Materie gnädig zu verwandeln.
In ihrem Katalogtext „erinnert“ Rottenberg daran, dass das Vergessen, Ausblenden, Wegfiltern sowohl in der Wahrnehmungstheorie als auch in der Psychoanalyse ebenfalls einen positiven Stellenwert besitzt. So spielt Harrison Ford in einem Film – den Titel habe ich leider vergessen – einen korrupten, kaputten Rechtsanwalt, der infolge eines Gehirnschusses Totalausfall hat und ein zweites Leben beginnen muss und darf, ein gutes und integeres. In der Ausstellung dagegen ist nur Abwesenheit zu sehen, keine Möglichkeiten. Miroslav Balka zeigt den nackten, kahlen Grundriss seines Hauses, sein eigenes, beschränktes, winziges Stückchen Lebensraum und Entfaltungsmöglichkeit – aber Fressen, Saufen und all das weitere Gewurgel bleibt in solch konzeptueller Kunst des piekfeinen Andeutens schön draußen. Und Anselm Kiefer gar richtet mit großgekotzten Titeleien („Frauen der Revolution“, „Isis und Osiris“) Projektionsflächen ein, die so riesig, unpräzise und blabla-allgemein sind, dass man jede Lust verliert, sich in sie hineinzutasten.
Nichts, was man beim Thema Vergessen nicht anschleppen könnte; Von jedem x-beliebigen archetypischen (also erinnerungsspeichernden) Mythos, egal ob katholisch oder babylonisch, bis zu jedem x-beliebigen abgelegten Alltagsding. Und das ist Schwäche wie Stärke solcher Ausstellungen mit hochtrabenden Themen. Irgendwie erwischen sie durchaus die Schnittstellen zwischen biologischer, psychologischer, soziologischer, historischer Ebene. Irgendwie versackt aber alles auch schnell in Allgemeinplätzen: Vergessen, eine Grundkonstante des Lebens. Und manchmal ist es schon die Frage, ob der Betrachter für manche Werke nur guten Willens sein muss oder zum Selbstbetrug fähig. Da ist zum Beispiel Stanislaw Drozdz. In gigantomanischen (warum eigentlich?) Lettern schreibt er „Vergessen, Vergesse, Vergess, Verges“ etc. bis am Ende nur noch ein weißer Kreis übrig bleibt. Klar kann man ganze Bücher über weiße Kreise schreiben oder über den Unterschied der Auslöschung eines „n“ oder eines „g“. Auch dass es nur stinknormale 60er-Jahre-Konkrete-Poesie ist, kann man reflexionswürdig finden. Aber will man das? Wirklich?
Nur eine Arbeit funkelt in ironischem Überschwang. Da ist die Rede von einem Wissenschaftler namens Sonnabend, frei nach Herrn Anything-goes-Feyerabend. Dokumentiert wird Sonnabends halb lustige, halb beeindruckende Theorie von der Identität von Vergessen und Erinnern; deshalb beenden wir hier jede weitere Erinnerung an diese interessante, doch auch fragwürdige Ausstellung. bk
Bis zum 4. März 2001 im Neuen Museum Weserburg zu sehen
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