: Fegefeuerfestes Panoptikum
Neues aus der Humorforschung: Der Wortschichter Gerhard Polt wiederentdeckt
Ich hatte ihn aus den Augen verloren. In den Achtzigerjahren zählte er zu den hiesigen Hausgöttern. Auf Empfehlung meines Onkels, ohne den ich kaum Gerhard Polt zu einem derart frühen Zeitpunkt kennen gelernt hätte, der zu einer Prägung dessen wurde, was man künstlerischen Takt und artistische Noblesse nennen könnte – auf dessen Betreiben schaute ich Folge um Folge der damals in Verantwortung des nicht rundum verblödeten Bayerischen Rundfunks produzierten Serie „Fast wia im richtigen Leben“, verfasst durch Hanns Christian Müller und Polt, gespielt maßgeblich von Polt und der fantastisch schrubbigen Gisela Schneeberger.
Ich hatte ihn vergessen; hatte die Momente verdrängt, da ich, die Miniatur „Tonis Tristesse“ oder das den gesamten Beckett bündig übertrumpfende Bramarbasierstück „Warten auf Dillinger“ hörte: „Ah, du, Dragan! He, Dragan! Dillinger wahrscheinlich heute nix mehr kommen. Also eine halbe Stunde du noch aufschaufeln, und wenn Dillinger dann no net da sein, dann du wieder zuschaufeln, aber wahrscheinlich Dillinger heute nicht mehr kommen, oder, was moanst du? – Sie, der Dragan moant aa, des wird heut nix mehr. – Ja, i glaab, des hat jetz koan Sinn mehr, wie, dass der Dillinger heut no kimmt, des is äußerst unwahrscheinlich.“
Ich hatte Polt ad acta gelegt, unabsichtlich. Vor zwei Jahren indes schusterte mir ein Bekannter aktuelle Aufnahmen zu – Livemitschnitte des Kein-&-Aber-Verlages. Die CDs „Attacke auf Geistesmensch“ und „Der Standort Deutschland“ reaktivierten meine Polt-Manie schlagartig. Hier grantelte, stotterte, brüllte, haspelte und narratierte ein entfesselter, überbordend böser, gnadenreich tonfall- und ausdrucksbeseelter Bühnenkünstler, der ein fegefeuerfestes Panoptikum an Figuren schuf, die kein Qualtinger und kein Valentin zum fürchterlich verkehrten, falschen Leben hätte erwecken können. Das teils leicht Bierruhige, das mir zwischenzeitlich kurz an dem unterschätzten Kinofilm „Herr Ober!“ (1992) sehr behagte, war dem zerfaserten, wüsten, brutalen und doch auch bedachtsamen, geschmeidig imposanten Erzählgestus gewichen. Partien wie „Die Hölle“, „Die Garage“, „Attacke auf Geistesmensch“, „1805“ oder die „Gemütlichkeit“-Meditation sind so bisher nicht in Kunst erlöst worden, und darauf geben Ihnen fünf Fünftel meiner Freunde ihr Barschelwort.
Polt war wiederentdeckt. Seine jenseitigen, unbegreiflichen Schrei- und Krampfkompositionen rührten an die einst zurückhaltenderen Fälle der Totalchaotisierung des Unverständnisses von allem und jedem und definitiv nichts. Zögerte Polt früher fast, das Fräulein Anni sagen zu lassen: „’d Anni hat g’sagt, also sie sagt auch, dies Moderne, sagt sie, des is ja heutzutage mehr oder weniger praktisch direkt symptomatisch“, kulminieren jetzt die Falschfaselei, das Imponiergemopse und die barbarischen Ressentimentcharakterstudien in lediglich karg kabarettistisch touchierten, monolithisch benamsten Nummern. Dem Apokryphen, Wirren und epiphanisch Evidenten vermählt („Wenn a Nichtschwimmer ersauft, is des irgendwie konsequent“), verwurschtelt Polts gerade erschienene CD „Und wer zahlt’s?“ heillos das Wirtshausgerede mit dem New speech der Konzerne, das Pseudoexpertentum mit der blasierten, zu tiefem Jammer herabzerrenden Verblendung. Gegen den Wortschichter und Satzraser, grellgemeinen Lacher und einzigartigen Rolleninkarnator, dem die Pointe wurscht ist wie ein Instantschweinsbraten, schmiert sämtlicher zeitgenössischer Philosophenhumbug ab. Der Zehnminüter „Der Gedanke“ etwa eruiert, was „Denken heute“ (Prof. Hab er Maß!) bedeutet. Der Erzähler soll zur Verabschiedung des Herrn Dietz einen Gedanken vortragen, und nun beichtet er seine marod-mäeutischen Gedankengebärqualen: „Am Donnerstag war der Gedanke noch nicht anwesend. Und am Freitag auch nicht, neä. Jetz hob i scho gmerkt, jetz wird’s eng. Neä. Ja, wo bring’ ich jetzt den Gedanken her? Wie mach’ ich des? [...] Diese Gedanken, [...] die machen, was sie wollen, [...] diese Gedanken sind ein ambulantes Geschwörl, neä, unzuverlässig, a geh.“
Und siehe, das Stück „Olé“ löst die erkenntnisheikle Spannung: „Spanien ist Spanien, und Deutschland ist Deutschland.“ Argumentiere wer dagegen!“ Denn seien wir „einmal ehrlich“ (Polt): „Die Gedanken könna ein am Arsch lecken.“ Wirklich wahr.
JÜRGEN ROTH
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