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Ein Herz für Fäustlinge

Reporter unterwegs: zu Besuch in einem Asyl für verlorene Handschuhe

Durch den Elbtunnel südwärts, so kommen wir hin. Eine knappe Stunde später sind wir da. Blinker raus und rauf auf den Bauhof von Brodersen in der Nordheide. Ein Blaumann kommt des Weges, und es ist, einem Aufnäher zufolge, ein Herr Eckhard Landwehr, Abteilungsleiter. „Jau, jau!“, sagt Herr Landwehr.

Wir folgen ihm zu einem Wohncontainer. „Straßenmeisterei“ steht dran und davor ein orangefarbener Pritschenwagen mit Doppelkabine und einem Rüttler auf der Ladefläche. Landwehr öffnet die Innentür. Schon sind wir im Pausenraum der Straßenmeisterei. Es riecht nach Wurststulle und kaltem Rauch. Landwehr sagt uns an: „Aus Hamburg!

Olaf Kanter (38) reicht uns eine Hand, oder besser, so etwas Ähnliches, denn was er uns da zu drücken gibt, gleicht eher einer fünfstieligen Bratpfanne: „Tag auch!“ In seinen Mundwinkeln speichelt es schaumig. Seine Brillengläser haben Sicherheitsglas-Stärke. Das mächtige Oberkiefergebiss liegt bloß. Hinter dem, geschätzt, zwometerzehn großen Mann, rechts an der Wand über einem doppelt gerippten Radiator, hängt das Bild einer nackten Frau, der jemand einen Esso-Button („Hier ist die Energie!“) auf die Musch geklebt hat. Daneben eine Straßenkarte mit unzähligen roten Fähnchen drauf. „Alles Fundorte“, sagt Herr Kanter, „Fundorte von Handschuhen.“ Herr Landwehr hinter ihm macht heimlich den Scheibenwischer.

Herr Kanter hat Feierabend. Wir begleiten ihn in die offene Station des nahe gelegenen St. Annen-Stifts, wo er wohnt. Die Mutter Oberin begrüßt uns und kommt mit bis auf Kanters Zimmer. Dort stehen zahllose Kisten, mit nichts als kaputten, dreckigen Handschuhen drin. Gewesenen Handschuhen eher, Lappen eigentlich, Fetzen. An der Wand ein offenes Regal, ebenfalls dicht gefüllt mit alten Damen- und Herren-Handschuhen. Einzelstücke überwiegend. Grob wollene und fein gestrickte Fäustlinge, bunt plastene und echt lederne Fingerhandschuhe auch. „So sieht’s aus“, sagt Herr Kanter. „Enorm!“, sagen wir, blicken uns hilfesuchend nach der Mutter Oberin um. Doch die ist verschwunden.

Wie ein Kranausleger schwenkt jetzt Kanters Arm durch den Raum. Seine Pranke greift was vom Regal, zeigt es uns. „Gestern gefunden: B77, Fahrtrichtung Bremen“, sagt er. Ein einzelner Arbeitshandschuh ist bzw. war es, jedenfalls bietet er (vorausgesetzt, ein Handschuh kann das) ein Bild des Jammers: verstümmelt, bizarr verklumpt, bloß noch Torso. Drei Finger fehlen, seine rechte Seitenflanke ist fast vollständig aufgerissen. Im Daumenballenbereich schwärt ein öliger Fleck. Aus einem Riss, der gleich einer schmutzig leckenden Wunde in seinem Obermaterial klafft, bricht Wattierung oder sonstwelche Futterinnerei.

„Jetzt geht das wieder los!“, klagt Herr Kanter, „der Winter!“ Wir nicken. Er legt den stinkend feuchten Handschuhtorso behutsam unter eine infrarote Wärmelampe, rührt dann im Waschbecken ein Fuder Trockenfutter mit Wasser an. Im Winter, erklärt er dabei, finden sich die meisten Handschuhe. Die nach dem Tanken auf dem Autodach vergessenen und dann heruntergefallenen, die von den Ladeflächen der Laster herabwehenden, die sonstwie verlorenen. Er aber sammelt sie alle auf und päppelt sie wieder hoch, sagt Kanter und beginnt dann tatsächlich, einigen Handschuhen löffelweise etwas von dem Futterbrei zu verabreichen. Kanter lächelt. Uns schaudert es.

Auf der Rückfahrt nach Hamburg zählen wir acht Handschuhleichen auf der Autobahn: einige mehrfach überfahren, alle dreckig, nass, die meisten ziemlich verstümmelt. Wie tote Tiere sehen manche aus, bisweilen zuckt noch ein einzelner Finger im Fahrtwind der vorbeirasenden Fahrzeuge. Nur gut, denken wir, dass es Olaf Kanter gibt. Er sammelt sie alle auf. Er kümmert sich um sie. Es macht ja sonst keiner. FRITZ TIETZ

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