Der Tiger zerfleischt

„Chess is coming home“: In der Heimat des Schachs wird die WM des Weltverbands Fide ausgespielt. Ganz Indien hofft, Großmeister Viswanathan Anand möge die gesamte Konkurrenz matt setzen

von HARTMUT METZ

„Football is coming home“, sangen die englischen Kicker anno 1996, als sich die besten Teams des Kontinents bei der Europameisterschaft im Mutterland des Fußballs trafen. „Chess is coming home“ müsste die Hymne nun für die Schach-WM heißen, weil der Titelkampf des Weltverbandes Fide erstmals in Indien und Iran ausgetragen wird.

Das altindische Tschaturanga gilt als Vorläufer des modernen Schachs. Tschaturanga hieß das vier Waffengattungen umfassende Heer des Subkontinents: Elefanten, Kampfwagen, Reiter und Fußsoldaten scharten sich in vier Ecken um ihren jeweiligen König. Sprechen Verlierer heutzutage – um nach einer Niederlage das zu Niedergeschlagenheit neigende Gemüt zu schonen – gerne von Schach als „Glücksspiel“, galt dies in den Anfängen des 6. Jahrhunderts unserer Zeit durchaus. Würfel entschieden auf den 64 Feldern das Schlachtenglück der vier Parteien.

Während England 1996 durch Bertis Elf düpiert wurde, ist bereits in der dritten Runde der Schach-WM klar, dass kein noch so emsiger deutscher Verteidiger gut genug für den Titel ist. Christopher Lutz musste im zweiten Duell passen – gegen einen Mannschaftskameraden, der beim deutschen Meister SG Köln-Porz ein Brett hinter ihm gemeldet ist: Alexander Chalifman. Immerhin gewann der St. Petersburger 1999 überraschend die zweite K.o.-WM in Las Vegas und galt seitdem als Antipode des von der Fide abtrünnigen Garri Kasparow.

Chalifman droht in Neu-Delhi aber das gleiche Schicksal wie dem Weltranglistenersten, der vor wenigen Wochen von Wladimir Kramnik seines WM-Titels beraubt wurde. Schon gegen Lutz musste der Fide-Weltmeister nach zwei Unentschieden in die Schnellschach-Entscheidung, in der er sich mit 1,5:0,5 durchsetzte. Dass Chalifman gegen den 21-jährigen Ungarn Peter Leko zweimal remisierte und die Playoffs erreichte, kann der Russe dagegen als Erfolg verbuchen. Im Januar war der 18 Plätze tiefer eingestufte Titelverteidiger von dem Weltranglistensechsten in einem Freundschafts-Wettkampf 4,5:1,5 auseinander genommen worden.

Während bei den Damen alles auf eine erneute chinesische Regentschaft hinausläuft, gibt es bei den Herren nur einen heißen Anwärter auf den Löwenanteil der rund acht Millionen Mark Preisgeld: „Mein Topfavorit heißt Viswanathan Anand“, meint der bulgarische Achtelfinalist Wesselin Topalow. Auch Garri Kasparow, der sich nach seiner Schlappe gegen Kramnik diesmal kleinlaut jede Spitze aus der Ferne gegen die Fide-WM verkniff, sieht den Weltranglistendritten vorne: „In dieser Form hat Anand bis zum Viertelfinale überhaupt niemanden zu fürchten.“

In Neu-Delhi konzentriert sich das Interesse auf den ehemaligen indischen Sportler des Jahres. Nach Unentschieden mit Schwarz zerfleischte der „Tiger von Madras“ mit Weiß den Moldawier Viktor Bologan und Smbat Lputjan (Armenien). Bei den anschließenden Analysen hängen Heerscharen einheimischer Journalisten an den Lippen Anands. Der 30-Jährige hat Schach zum Nationalsport gemacht. Als einziger Inder wird er jedoch froh sein, dass das Finale vom 20. bis 26. Dezember in Teheran stattfindet – abseits der übergroßen Erwartungshaltung des Milliarden-Volkes.

Nach Persien wanderte Tschaturanga vor etwa 1.500 Jahren. Im Heldenepos „Schahnameh“ („Buch der Könige“) berichtet der Dichter Firdausi von einer indischen Gesandtschaft, die Schah Chosroes I. (532–578) 1.200 mit Gold und Geschmeide beladene Kamele sowie 90 Elefanten überbrachten. Dazu ein Tschaturanga-Spiel mit 16 Smaragd- und 16 Rubinsteinfiguren. Choesroes I. sollte aber künftig Tribut abführen, wenn ihm die Weisheit für die Regeln des Kriegsspiels fehle.

Der Magier Buzurgmir verdiente sich als Retter in der Not ein Vermögen von 12.000 Dirhem, weil er die Züge aller Figuren aus Indien kannte und den Gesandten Tachturita zwölfmal in Folge matt setzte. Da sich Meucheln des Königs nicht schickte, wurde der Angriff auf ihn mit einem „Schah!“ verkündet. Der unaufhaltsame Siegeszug des Schachs begann damit in der arabischen Welt.