: Sinnfindung statt Gefühlsschwere
Wenn Weihnachten zum Terror wird: Die traditionellen Rituale unterm Christbaum sind für Singles und Patchworkfamilien häufig eine Belastung. Individuelle Sinnfindung bietet einen Ausweg. Die Skandinavier machen’s vor: Party statt Besinnlichkeit
Interview VOLKER ENGELS
taz: Warum ist das „Fest der Liebe“ für viele Menschen zum „Weihnachtsterror“ mutiert?
Carmen Rosen: Es gibt eine Diskrepanz zwischen den Idealen Friede, Harmonie und Seligkeit und den Lebens- und Arbeitszusammenhängen, in denen wir wirklich stecken. Das macht den Stress aus. Ursprünglich lag Weihnachten in der Zeit von Ruhe und Dunkelheit. Im bäuerlichen Leben trat Ruhe ein, die Arbeit verlagerte sich ins Haus, die Familien waren enger beieinander. Das ist ja heute überhaupt nicht mehr der Fall. Diese geschichtlichen und christlichen Zusammenhänge haben sich heute zu dieser gefühlsschweren Zeit verdichtet, die zudem noch mit eigenen Erinnerungen und „Aufträgen“ aus der Kindheit behaftet ist. Das hat dann oft keinen Bezug mehr zum Lebensalltag der Erwachsenen. Kinder haben diesen Weihnachtsstress in der Regel nicht.
Hat es auch mit dem Auseinanderbrechen traditioneller Familienstrukturen zu tun, dass die Zusammenkunft am familiären Weihnachtsbaum häufig Beklemmungen hervorruft?
Die Kernfamilie, Vater, Mutter und drei Kinder, gibt es eigentlich nicht mehr. Wir sprechen heute von „Patchworkfamilien“, in denen sich zum Beispiel Partner mit neuen Kindern zusammentun. Was diese Familien an logistischer Leistung erbringen, ist schon sehr anstrengend. Viele Bedürfnisse und alte Rituale sollen befriedigt werden, wie etwa: Wer feiert mit wem, und wann setzt man sich unter den Weihnachtsbaum?
Gerade in diesen Familien brechen die Gefühle und Sehnsüchte so richtig auf. Das kann zu starken Beklemmungen führen.
Sollte man eher den trauten Familienfrieden wahren oder eigene Autonomiebedürfnisse in den Vordergrund stellen?
Der goldene Weg ist es, den Sinn des Weihnachtsfestes zu finden, der zu einem passt! Das ist ein innerer Klärungsprozess: Was bedeuten mir die tradierten Rituale, und lassen sie sich mit meinem heutigen Leben und meinen Vorstellungen vereinbaren? Das muss nicht immer konfrontativ sein. Wenn man sieht, dass die Weihnachtsfeier für andere wichtig ist, trage ich meinen Teil dazu bei, in dem ich diese Bedürfnisse erfülle. Auch wenn ich etwas anderes will. Wichtig ist dabei, dass man selbst Gestalterin des Schicksals ist. Es kann auch helfen, das mit anderen Familienmitgliedern zu diskutieren. Es ist manchmal sehr spannend, was da so rauskommt.
Wie sollten Erwachsene damit umgehen, wenn sie mal wieder ein Geschenk bekommen haben, das voll danebenliegt? Mildes Schweigen oder deutliche Worte?
Hinter diesem milden Schweigen steht doch eigentlich eine gehörige Portion Enttäuschung und Ärger: Schon wieder wurden meine Bedürfnisse übersehen, der Partner hat sich nicht genügend um mich bemüht. Dieses Gefühl hat aggressive Züge und sollte nicht unterdrückt werden. Das macht sich im Verlauf des Abends sowieso bemerkbar. Ein mildes, aber deutliches Wort ist wesentlich besser, als den Ärger einfach wegzustecken. In solchen Situationen ist eine Portion Humor übrigens sehr hilfreich.
Woran liegt es, dass Kinderwünsche an den Weihnachtsmann häufig am „pädagogischen Widerwillen“ der Eltern scheitern?
Das hat damit zu tun, dass die Eltern sehr bestrebt sind, gute Eltern zu sein und einen positiven Einfluss auf die Kinder auszuüben. Wenn Kinderwünsche aber gar nicht wahrgenommen oder erfüllt werden, macht man das „Verbotene“ um so interessanter. Eltern sollten den Mut haben, pädagogisch weniger wertvolle Dinge zu verschenken. Man kann dann auch offener damit umgehen.
Sind Singles besonders gefährdet, in ein „Weihnachtsloch“ zu fallen?
Ja. Das merke ich in meiner psychotherapeutischen Praxis ganz stark. Weihnachten lastet wie ein Berg auf vielen. Das traditionelle ist das familienorientierte Fest. Besonders unfreiwillige Singles kommen in die Bredouille.
Welchen Rat können Sie ihnen geben, die Weihnachtszeit „unbeschadet“ zu überstehen?
Sie sollten darangehen, sich von den vorgegebenen Ritualen zu lösen und die eigenen Regeln zu finden. Etwa bei der Frage: Wo habe ich eigentlich meine Wahlfamilie, also meine Freunde? Bei uns wird Weihnachten sehr bedeutungsschwanger begangen. In den nordischen Ländern wird das fröhlich wie ein Fest gefeiert. Man tanzt um den Weihnachtsbaum. Singles sollten sich daran orientieren und den Mut haben, Freunde einzuladen oder in die Kneipe gehen. Das ist ja nicht verboten. So etwas kann man übrigens schon vorher bei einem gemütlichen Adventskaffeetrinken tun.
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