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Wie ein Sandkorn in der Wüste

Von der Sehnsucht, in der Welt anzukommen und gleichzeitig in ihr zu verschwinden: In seinem beruhigend sentimentalen Roman „Petrowitsch“ erzählt Andrej Kurkow von einer langen Reise durch die postsowjetischen Landschaften zwischen Kiew und Kasachstan – und vom Vermächtnis eines Dichters

von KOLJA MENSING

Rodina, das russische Wort für Heimat, bezeichnet in seiner ursprüngliche Bedeutung den Platz, an dem man geboren ist. In diesem Sinne lebe ich schon lange nicht mehr in meiner Heimat, und mit meinem letzten Umzug in einen der östlicheren Bezirke Berlins bin ich als wahrscheinlich einziger Westdeutscher unter den Mietern in meinem Haus endgültig in der Fremde angekommen.

Mit meinem Umzug hatte ich das Gefühl, einen Abschnitt meiner Biografie abschließen zu müssen. Ich warf also einige Dinge weg und fand es interessant, als ich dabei eines Tages in der blauen Altpapiertonne im Innenhof auf einen Stapel Bücher stieß. Einer meiner Nachbarn arbeitete offenbar ebenfalls an der Entsorgung lebensgeschichtlicher Überreste und hatte seine philosophische Bibliothek aussortiert. Bände zur „Kritik der bürgerlichen Ideologie“ des Akademie Verlags lagen neben farbig eingebundenen Büchern aus dem VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften zu Fragen wie „Dialektik und Gesellschaft“. Auf dem Vorsatzpapier war der Name des Nachbarn aufgestempelt, und mit einem Bleistift hatte er dazugeschrieben, wann er das Buch angeschafft hatte: „Juni 83“ oder „Dezember 83“.

Einige Hefte der Deutschen Zeitschrift für Philosophie trug ich in meine Wohnung: „Heimat ist, ebenso wie das Vaterland, eine objektiv-reale Erscheinung“, las ich einer längeren Abhandlung zum „Fünften Philosophie-Kongress der DDR“ im Jahre 1979: „Das heißt, wir können nicht die Heimatliebe, eine emotionale Bestimmtheit, als vorrangiges Kriterium der Beziehungen zur unmittelbaren Umwelt anerkennen.“ Damals wusste ich wenig damit anzufangen. Doch als ich vor kurzem die ersten Seiten in dem Roman „Petrowitsch“ des ukrainischen Schriftstellers Andrej Kurkow las, musste ich an den Fund in der Altpapiertonne und die Zeilen zur Heimat im Sozialismus denken.

In diesem Roman bezieht der arbeitslose Geschichtslehrer Sotnikow eine neue Wohnung in Kiew. Er übernimmt von seinen Vormietern nicht nur einige nützliche Haushaltsgegenstände, sondern auch ein Buch. Es ist eine Studienausgabe von Tolstois „Krieg und Frieden“, die allerdings ausgehöhlt ist und in ihrem Innern wie eine Matrjoschka ein zweites Buch verbirgt: „Der Kobsar“, ein Gedichtzyklus von Taras Schewtschenko aus dem Jahre 1840.

Der große ukrainische Dichter beklagt darin die Unterdrückung seines Landes durch das zaristische Russland, doch Sotnikow entdeckt, das jemand kleine Kommentare in Form von Aphorismen an den Rand der Seiten geschrieben hat: „Ein absoluter Patriot kümmert sich nicht um nationale Mehrheiten oder nationale Minderheiten. Die Liebe zu seiner Frau ist stärker als die Liebe zur Heimat, weil die Frau, die seine Liebe erwidert, sowohl das Symbol der Heimat als auch das Ideal eines absoluten Patrioten ist.“

Sotnikow macht sich auf die Suche nach dem Autor der Kommentare. Er stößt auf den bereits verstorbenen Gerschowitsch, der einer geheimnisvollen Hinterlassenschaft des Dichters auf der Spur war: einer Schatulle, die Schewtschenko fernab der Heimat während des Militärdienstes im kasachischen Wüstensand vergraben hat. Sotnikow stellt sich vor, wie viel so ein Vermächtnis Schewtschenkos bei einer Versteigerung unter Exilukrainern wert wäre. Und weil der Zusammenbruch der Sowjetunion ihm bisher zu nicht mehr als einem Job als Nachtwächter verholfen hat, macht er sich auf die Reise – nach Kasachstan.

Der 39-jährige Andrej Kurkow, der wie sein Held Sotnikow als gebürtiger Russe ukrainischer Nationalität in Kiew lebt, hat bereits einige Romane geschrieben. In Deutschland erschien zunächst nur „Picknick auf dem Eis“. Er erzählte die Geschichte vom erfolglosen Schriftsteller Viktor und seinem schwermütigen Pinguin Mischa, für den im Zoo von Kiew aufgrund von Einsparungsmaßnahmen kein Platz mehr ist. So fordert die neue Zeit in der Ukraine ihre Opfer: Viktor verdient sein Geld damit, einfühlsame Nachrufe auf ermordete Politiker und andere hoch gestellte Persönlichkeiten zu schreiben, und wird zum distanzierten Beobachter. Sein eigenes Land ist ihm fremd geworden, und zu Hause fühlt er sich allein in der alles einebnenden Winterlandschaft mit ihren zugefrorenen Seen und schneebedeckten Straßen: Heimat ist das, was man nicht sehen kann.

Auch wenn Lenin einst vom „Sozialismus als Vaterland“ und der Transformation eines romantischen Gefühls in eine objektiv-reale Erscheinung geträumt hatte: Kurkows postsowjetische Helden fühlen sich in der Melancholie zu Hause. „Schön, rauh und irgendwie grausam, ich wollte, daß diese Welt mich nicht über ihre Grenzen hinauslassen würde“, wünscht sich Sotnikow in „Petrowitsch“ inmitten der geschichtslosen Landschaft der kasachischen Wüste, in der jeder Gegenstand schon nach kurzer Zeit von gelbem Staub bedeckt und verschluckt wird: „Petrowitsch“ berichtet von der Sehnsucht, in der Welt anzukommen und dabei gleichzeitig in ihr zu verschwinden – von der Sehnsucht, wie ein Sandkorn zu leben.

Das ist alles. Allein die Erkenntnis, dass man diese Sehnsucht mit anderem Menschen teilen kann, macht Kurkows Buchs zu einem Liebesroman. Am Ende seiner langen Reise von Kiew nach Kasachstan und wieder zurück wartet Sotnikow mit der Nomadentochter Gulja in Kiew auf den Winter und den Schnee. Und auch das vermeintliche Vermächtnis des großen ukrainischen Dichters Schewtschenko hat sich unterdessen als eine Schatulle mit ein paar vergilbten Liebesbriefen an eine unbekannte Frau herausgestellt.

Doch das sind nur Handlungsreste, die sich wie zufällig an der Oberfläche dieses beruhigend sentimentalen Romans abgelagert haben. Warum der Dichter die Briefe vergraben hat und warum nicht nur Sotnikow und einige verrückte Nationalisten, sondern auch der ukrainische Geheimdienst auf der Suche danach war, bleibt offen: „Eine vollständige Geschichte hat ein böses Ende oder überhaupt keins“, erklären die Nomaden Sotnikow. Er glaubt ihnen gern.

Meinen Nachbarn hörte ich an jenem Tag kurz nach meinem Einzug in die neue Wohnung noch einige Male die Treppe hinauf- und hinuntergehen. Als ich zum Abend ein letztes Mal in die Altpapiertonne sah, bemerkte ich, dass er nicht nur in seinem Bücherregal für Ordnung gesorgt hatte. Zwischen den marxistisch-leninistischen Lehrbüchern und Zeitschriften sahen Briefe hervor, die mit blauer Tinte auf grauem, kariertem Papier geschrieben waren. „Mein Liebster, ich schreibe Dir jetzt noch, zu so später Stunde, denn mein Herz hüpft, als säße es auf einer Schaukel . . .“, las ich auf dem Blatt, erschrak und schloss die Tonne schnell. Auf dem Deckel bemerkte ich einen gelben Aufkleber. Das Diagramm erklärte, wie in einem endlosen Kreislauf aus altem Papier neue Bücher werden. Eine Weile versuchte ich, die Zeichnung zu verstehen.

Andrej Kurkow: „Petrowitsch“. Aus dem Russischen von Christa Vogel. Diogenes Verlag, Zürich 2000, 443 Seiten, 39,90 DM

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