: Hierarchie des Unglücks
■ „Weismann und Rotgesicht“ im Theater N.N.: Wer ist schuld?
Wer ist ärmer dran: Juden, Indianer oder Behinderte? Absurde Frage? Trotzdem oder deshalb ist sie das Thema von Weisman und Rotgesicht, das am vergangenen Wochenende im Theater N.N. im Altonaer Kulturbahnhof Premiere hatte. Drei Menschen, drei Geschichten, das Publikum darf fühlen, bei wem das Mitleidsbarometer am höchsten ausschlägt: Bei Ruthi (hervorragend gespielt von Ingo Braun)? Die ist debil, leicht zu verschrecken und heult sirenenhaft, sie kann bis zehn zählen und ist stolz darauf. Bei ihrem Vater? Der ist Jude (Jens Wesemann, der gegen die anderen etwas verblasst), trägt seine Frau und Ruthis Mutter als Asche in der Urne durch die Rocky Mountains, hat sich veirrt auf der Reise von der West- an die Ostküste.
Aber sie möchte nun einmal in New York beerdigt werden und hatte immer Angst vorm Fliegen. Oder bei dem Indianer (ebenfalls hervorragend und in seiner Präsenz die Bühne dominierend: Andreas Schäfer)? Der hat nichts als die Wüste, sich, ein kleines Tuch um den Kopf und zwei Große für den Rest. Er wartet auf den Tod. Aber vielleicht sagt er das auch nur so. Möglicherweise ist er auch gar keine Rothaut, sondern nur ein angemalter Weißer.
Der winzige Raum ist voller Zuschauer, die Bühne voller Phantasie und Wüsten-Mystik: Alles ist so kupferfarben wie die Indianer-Haut: Die Badewanne, die Samtbahnen, die Skulpturen und die Baumstämme, die von der Decke hängen. Hier kämpfen der Indianer und der Jude bis zur völligen Ent-blößung darum, wer wem etwas schuldet. Der Jude dem Indianer, weil er 50 Paar Socken sowie 25 Paar Schuhe hat und deshalb wohl auf eines verzichten kann? Der Indianer sagt: „Jud' zu sein ist nicht mehr abendfüllend“. Der Jude sagt: „Vielleicht bist du schlechter dran, Rothaut, aber ich habe die schlechteren Gedanken.“ Vielleicht ist deshalb am Ende nicht mehr der Indianer nackt, sondern der Jude. Und trotzdem ist er noch nicht satt. Er will alles und „was wirklich Wertvolles“ – Ruthi.
Weismann und Rotgesicht, ein jüdischer Western von George Tabori handelt vom Kampf der Außenseiter um eine Hierarchie des Am-Rande-Stehens. Er handelt von der Schuld, die wir haben oder uns einreden lassen, über die wir uns definieren, aus der wir Forderungen ableiten. Und er handelt von Menschen, die ihr Leben nicht gestalten, sondern anderen aufbürden, die die Verantwortung für ihr eigenes Unglück bei anderen suchen. Ein sehr sehenswertes Stück, das nicht alles erklärt, aber vieles anstößt. Sandra Wilsdorf
weitere Aufführungen: 25., 26, 29. + 30. 12., 20 Uhr, Theater N.N., Harkortstraße 81, Luke 18
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