zwischen den rillen: Der Christ im Anarchisten: Das Erbe der „Scherben“
Sieg der Löffelstellung
Wir haben die Erde von den Scherben nur geerbt. Anziehend sind die Anarcho-Schlager eines Rio Reiser noch heute. So schön schwarzweiß war seine Welt, dass man sich gleich zurechtfand. „Keine Macht für Niemand“ hieß das von einigen noch heute für epochal gehaltene „Ton Steine Scherben“-Album, das 1972 rauskam. Hätten Demolautsprecherwagen in den Siebzigern und Achtzigern Gebühren an die Gema abgeführt (pro hörend agitiertem Demonstranten etwa), Rio Reiser hätte sich einen schicken Lebensabend leisten können. Wenn er gewollt hätte. So zog er sich aufs Land zurück, nahm alle möglichen Sachen, um sich zu betäuben. Wer ihn aber kurz vor seinem Tod bei einem Konzert in Schwerin sah, der hatte das Gefühl, dass hier einer richtig vor die Hunde geht, der „geboren war, um frei zu sein“.
„Die Erben der Scherben“ nun vollbringen das Kunststückchen, die Platte von 1972 noch einmal aufzunehmen und sie dabei gleichzeitig einigermaßen modern und völlig antiquiert klingen zu lassen. „Wir sind zwei von Millionen“, trällern Daily Milk & Brutzky nett elektronisch vor sich selbst dahin. Angenehm selbstgenügsam, diese jungen Menschen. So scheint dann auch die Absurdität der Texte endlich durch, die schon in den Siebzigern differenzierter Denkenden irgendwie richtig, aber viel zu platt und eindimensional klangen. Ende der Siebziger jedenfalls haben wir schon gelacht, wenn wir auf der Demo den Bullen entgegenskandierten: „Schmeißt die Knarre weg, Polizisten!“ oder kurz nach der Räumung „Das ist unser Haus!“. Inspirierender und intelligenter waren Fehlfarben, zu deren „Es geht voran“ wir in Bremen das CDU-Büro „entglasten“.
Schön an der Platte der „Erben“ ist die vielleicht unbewusste Überhöhung des ursprünglichen Materials. „Schritt für Schritt ins Paradies“ fördert im Anarchisten Reiser den verträumten Christen zu Tage: „der lange Weg, der vor uns liegt ins Paradies“. Die romantische Seite der Scherben wird neu interpretierbar in „Komm schlaf bei mir“, wo eine Anleitung zum politisch korrekten Beischlaf drin ist: „Ich bin nicht über dir, ich bin nicht unter dir. Ich bin neben dir.“ Die Löffelstellung als letzter Sieg der militanten Straßenkämpfer, deren größter Irrtum es war, wirklich zu glauben, sie seien nicht allein. Scherben zu erben ist nicht immer ertragreich: Trotz der 22 verschiedenen Musiker und Bands (wenn man die eingespielten Anrufbeantwortergeschichten zwischen den Songs mitzählt) wirkt „Keine Macht für Niemand“ 28 Jahre später recht homogen und, bis auf wenige Ausnahmen, authentisch unavantgadistisch – die Scherben als Avantgarde zu sehen war immer ein Missverständnis. Das Revolutionäre enttarnt sich eher unfreiwillig als Attitüde.
Unverkrampfter und eher auf Höhe der Zeit erscheinen „Rotes Haus“. Ihr Album „Allemal“ ist eine flockig groovende Abrechnung mit dem rot-grünen Schweinesystem – eigentlich komisch, dass nicht auch die taz in einem Song auftaucht.
War es bei Reiser noch der Chef, der uns knebelte, ist es bei Rotes Haus die „Überflüssigkeit“ der Menschen aufgrund der Arbeitslosigkeit. Schuld sind jetzt „die Eliten, die nicht teilen“ wollen. Auch bei Rotes Haus (den Namen Rotes Tuch fände ich ja viel netter) will der Mensch vor allem „raus“. Raus aus den Köpfen, raus aus den Zimmern, die Gefängniszellen sind, und raus aus den tatsächlichen Zellen, wo der „politische Gefangene“ Mumia Abu Jamal auf die perversen US-Henker von Bush & Co. wartet. „Move For Mumia“ ist ein Powersong, mit dem man gern vor den Knast zöge. Hier wird der Hass auf Unrecht zum Denkanstoß: „Freiheit, was für ein absurder Begriff“. Danach ein Song, der melancholisch die hoffnungsvolle Variante des politischen Kampfes in seiner privaten Ausformung besingt. Ein ganzes Streichquartett bieten die Rothäusler auf, um ihre zärtliche Zuneigung zu einem Kind zu bezeugen: Hier ist das „Paradies“ eine Kinderwelt, die noch so richtig okay ist. Gruselig kitschig dazu die Zeichnung im Booklet der CD, auf der ein Riesenbaby die kleine Erde küsst wie einen Spielball. Hoffnung schöpft der müde Kämpfer zwischen dem Windelwechsel: „Du bist der Anfang, das Ende der Schmerzen.“
Interessant, welche Utopien sich halten und welches Befinden sich in solchen Projekten ausdrückt. Rotes Haus haben entgegen ihrem programmatischen Namen durchaus nicht nur Wahrheiten anzubieten. Weniger verklausuliert als Blumfeld besingen sie zur akustischen Gitarre die Verlorenheit, der man als jüngerer Mensch gern existenziell nachspürt: „Ich wünschte, du kämst um die Ecke, mit einem deiner Worte.“ Rotes Haus sammeln die Scherben auf, die andere liegen gelassen haben. Was sie sich da neu zusammenpuzzeln, hat nicht nur als politische Musik charmante Überzeugungskraft.
ANDREAS BECKER
Die Erben der Scherben: „Keine Macht für Niemand“ (Bigpop); Rotes Haus: „Allemal“ (Vertrieb übers Internet: www.roteshaus-musik.de)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen