Was ist „Historische Anthropologie“?

Historische Anthropologie will keine Aussagen über „den Menschen“ machen, etwa in der Weise des Anthropologen („Der Mensch ist ein Mangelwesen“) Arnold Gehlen. Sie sieht vielmehr menschliches Verhalten und menschliche Erkenntnis stets im spezifisch historischen Kontext.

Dabei greift sie vorzugsweise historische Dokumente auf, die von der politischen Geschichtsschreibung, aber auch von der Sozialgeschichte vernachlässigt wurden: Selbstzeugnisse einfacher Leute, Akten, die Vorgänge jenseits der Haupt- und Staatsaktionen beschreiben, Prozess- und Beschwerdeakten, Heirats- und Sterbeurkunden, Dorfchroniken.

Den Blick fürs Brauchtum, für Rituale, für Moden entlehnt sie der Ethnologie beziehungsweise Volkskunde, wie diese Disziplin früher genannt wurde. Ihr Interesse für Verhaltensweisen langer Dauer verbindet die Historische Anthropologie mit anderen Zweigen der modernen Geschichtsschreibung wie der Geschichte der Mentalitäten, die von der französischen Schule der „Annales“ bearbeitet wurden. Historische Anthropologen fordern die Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen.

Wer assistierte bei der Geburt der Historischen Anthropologie? Es gab sie schon vor der Erfindung des Namens, etwa mit den Forschungen des russischen Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin über die Welt von Rabelais und über den französischen Karneval in der frühen Neuzeit. Von den zeitgenössischen Historikern sei nur ein Werk aus den Siebzigerjahren genannt: Emanuel LeRoy Ladurie und seine Untersuchung über das okzitanische Dorf Montaillou.

Der Autor wertet dort die Inquisitionsprotokolle aus, die hochnotpeinliche Untersuchung, der sich alle der Ketzerei verdächtigen Personen um die Wende vom 13. zum 14 Jahrhundert unterziehen mussten. Aus diesen und anderen Dokumenten gewinnt LeRoy Ladurie eine dichte Beschreibung der Lebensumstände und Ansichten der DörflerInnen.

In Deutschland hat sich die Historische Anthropologie als Wissenschaftszweig vor allem im Rahmen des Max-Planck-Instituts für Geschichte und dort in seiner Erfurter Abteilung etabliert, mit den Historikern Alf Lüdtke und Hans Medick als führenden Gelehrten.

Die Erfurter geben eine Vierteljahreszeitschrift namens Historische Anthropologie heraus, in der sich Grundlegendes mit nur scheinbar Abwegigem (etwa zur Geschichte des Fundbüros und der Verlustanzeigen) verbindet. Das Institut verfolgt ein ehrgeiziges Forschungsprogramm. Mit den Interessen des Instituts für Sozialforschung verbindet sie der Schwerpunkt Gewalt und Krieg im Alltagsleben und in Selbstzeugnissen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert.

Im Rahmen dieses Forschungsprojekts hat Benigna von Krusenstjern einen Band mit Selbstzeugnissen aus dem Dreißigjährigen Krieg veröffentlicht. Zu diesen Egodokumenten tagte kürzlich in Amsterdam eine Konferenz. Weitere Informationen via Internet per Suchmaschine mit den Begriffen „Ego-Dokument“ und „Ego-Documents“.

Hinweis: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.): „Eine Ausstellung und ihre Folgen“. Hamburger Edition, Hamburg 1999, 322 Seiten, 42 Mark. C.S.