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Gedankensprung am Tresen

Wahre Lokale (52): Eine Silvesterfeier mit Frank Schirrmacher im Berliner „Fernamt“

Schirrmacher nahm ungerührt einen großen Schluck von seinem Schultheiss: „Das sind ganz einfache Menschen.“

Seit Jahren liefen wir an der kleinen Gaststätte im Nebenhaus vorbei. „Zum Fernamt“ hieß das von vergilbten Gardinen verhangene Schöneberger Ecklokal, das seit circa 50 Jahren seinen Namen trug, denn seinerzeit gab es in der Winterfeldtstraße noch eines der großen Berliner Fernämter. Doch schon lange verkehrte keiner der neuen Telekom-Mitarbeiter mehr hier. Ab und zu fiel ein sichtlich angetrunkener Alt-Gast aus der Tür, und oft fanden wir im Eingang unseres Hauses Pissrinnen, die von den heimwärts Torkelnden stammten. „Eines Tages müssen wir mal da hinein“, begann der immer gleiche Dialog. „Unbedingt“, lautete die Antwort, auch wenn wir bislang keinen Mut dazu fanden. Bis zum Silvestertag 2000.

Was lag näher, als den Beginn eines neuen Jahrtausends mit einem Großdenker im „Fernamt“ zu verbringen, der einmal von dem amerikanischen Magazin Time zu einem der wichtigsten Männer des kommenden Jahrtausends gekürt wurde. Einer, der die Zukunft der Welt kennt und weiß, dass durch die Gentechnik ein neuer Gedankensprung in der Menschheitsgeschichte naht, allenfalls vergleichbar mit den Umwälzungen der Renaissance. Frank Schirrmacher, Herausgeber der FAZ und Leiter des wichtigsten deutschsprachigen Feuilletons, nahm die Einladung überraschend schnell an. Und so landeten wir mit ihm im „Fernamt“, begrüßt von einem erstaunlich jungen und aufgeräumten Wirt. Überhaupt hatte das „Fernamt“ sich herausgeputzt. Nicht nur für die Silvesterfeier, sondern für das neue Jahrtausend, wie uns der Wirt gleich erklärte, denn alles sei neu. Zwar habe er schon jahrelang hier gearbeitet, aber von heute an übernehme er „den Laden ganz“. Übernommen hatte er auch viele der Stammgäste, denen er nun einige seiner jungen Freunde zuführte.

Frank Schirrmacher war sofort entzückt, wohl weil der Wirt uns per Handschlag begrüßte – als ob ihm schon lang niemand die Hand gereicht oder ihn berührt hätte. „Ich fühle mich hier auf Anhieb wohl“, erklärte er und öffnete vorsichtig das Fläschchen „Kleiner Feigling“, das der Wirt eilig überreicht hatte, damit unser Alkoholpegel den der übrigen Gäste einholte. „Ein ästhetisch hochwertiges Werk“, schüttelte sich Schirrmacher und konnte nur knapp daran gehindert werden, die leere Flasche auf den Tisch zu stellen. Wenn das Fläschchen aufrecht stehen bleibe, bedeute dies eine Lokalrunde, versuchten wir dem ungläubig dreinschauenden Feuilletonisten eine der elementaren Alltagstechniken des „Fernamts“ nahe zu bringen.

Aus den Lautsprechern der Jukebox tönte Roland Kaisers „Dich zu lieben“, was eine junge Dame mit einem Matrosenkäppi auf dem Kopf nutzte, Schirrmacher zum Tanz aufzufordern. Der wehrte allerdings die Offerte mit beiden Händen wedelnd ab, was die junge Dame, die ich jetzt als Kassiererin des Supermarkts um die Ecke erkannte, nutzte, um ihm das Käppi aufzusetzen und ein enttäuschtes „Stoffel“ hinüberzurufen. Schirrmacher nahm ungerührt einen großen Schluck von seinem Schultheiss und zog mich näher an sich heran: „Das sind ganz einfache Menschen“, erklärte er mir. „Aber haben Sie nicht geschrieben, dass die Zukunft uns Menschen nicht mehr braucht?“ Schirrmacher lächelte und nahm einen weiteren Schluck – diesmal vom Pflaumenschnaps: „Das behaupten Wissenschaftler, die viel intelligenter sind als ich.“ Im gleichen Moment strauchelte ein älterer Herr über eine Girlande, die sich vom Holztresen bis zum Fenster zog. Erst jetzt erkannte ich, dass das Schaufenster zum ersten Mal seit Jahren geputzt worden sein musste. Dahinter konnte man die Straße erkennen.

„Sehen Sie, ich führe im Feuilleton nur Kulturen zusammen. Sicher, das mag jetzt etwas größenwahnsinnig erscheinen, aber ohne unsere Gen-Debatte würde den Menschen nicht klar werden, dass sie dereinst nur noch als Computermenschen existieren.“ Ich blickte hinüber zum Nachbartisch, wo auf einer Eckbank zwei Asiaten saßen, die, wären wir in einer Hafenstadt, Matrosen hätten sein müssen. Sie fühlten sich im „Fernamt“ genauso wohl wie wir. Gerade forderte die tanzwütige Kassiererin einen der beiden auf und führte ihn vor die Musikbox, aus der heraus Wolfgang Petry die „Hölle, Hölle, Hölle“ besang.

Wieder eilte der Wirt heran und brachte das mittlerweile siebte Herrengedeck. „Glauben Sie denn tatsächlich an die Zukunftsprognosen der Biowissenschaftler?“, fragte ich den Denker, und beim Wort „Zukunftsprognosen“ merkte ich, das meine Zunge langsam pflaumenschwer wurde. „Die Fanta ..., die Fantasie und Sprachbegehung ..., Quatsch, -begabung der Fölletonisten ist besonders gefragt, wenn ...“ – und hier verlor Schirrmacher den Faden und besann sich erneut auf seine Getränke.

Später, als ich von der Toilette zurückkehrte, befand sich der Großfeuilletonist am Tresen, wo er gerade zu einem seiner Gedankensprünge ansetzte. Um dies wohl zu verhindern, redeten der Wirt und ein Gast auf ihn ein, der sich Schirrmacher erst als Peter Wuttke vorstellte und ihm dann seine Frau andiente. Vera Wuttke war wegen des Handels sehr gerührt und weinte auch einige Augenblicke vor Glück, während Schirrmacher allen dreien noch einmal erklärte, warum die Ästhetik ohne gesellschaftliche Absichten auskomme – gerade an einem solch schönen Festtage. Dass Schirrmacher bald darauf durch unbedachtes Hantieren mit einem Feuerzeug vorzeitig das Silvesterfeuerwerk entzündete, wurde von den übrigen Gästen als durchaus angenehme Überraschung aufgenommen.

Als wir Frank Schirrmacher schließlich in ein Taxi bugsierten, riss er noch einmal die Autotür auf, lupfte das Matrosenkäppi und rief mit einen glücklichen Zug um die weichen Lippen: „nano, nano“. Dann verschwand er im Berliner Silvesterdunst. Ich winkte ihm noch lange nach.

JAN ASBERG

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